Risiko oder Rettung? Wer Cholesterinsenker nimmt, sollte Nocebo-Effekt kennen

Um eine erhöhte Konzentration von LDL-Cholesterin im Blut zu senken, verordnen Ärzte Statine. Sie schützen vor Herzinfarkt und Schlaganfall. Doch Skeptiker säen mit Schlagworten wie „Cholesterin-Lüge“ immer wieder Zweifel an dieser Therapie.

Cholesterin ist ein lebensnotwendiger Baustein in unserem Körper und wichtig etwa für Aufbau und Funktion von Körperzellen. Das ist richtig. Dass die lebensnotwendigen Funktionen dieser Blutfette aber für deren generelle Harmlosigkeit und für die Nutzlosigkeit einer Cholesterinsenkung sprechen, wie häufig behauptet wird, ist jedoch falsch und gehört ins Reich der Mythen. Wie für vieles gilt auch für Cholesterin: Zu viel ist schädlich.

Hohe Cholesterinwerte – und hier kommt insbesondere das „böse“ LDL-Cholesterin ins Spiel – sind für unsere Blutgefäße schädigend, vor allem für unsere Herzkranzarterien. Daran gibt es unter Spezialisten keinen Zweifel. Die Natur selbst liefert uns Belege dafür. So gibt es Menschen, die aufgrund besonderer genetischer Veranlagungen hohe Cholesterin-Konzentrationen im Blut aufweisen.

Ohne frühzeitige therapeutische Gegensteuerung durch Senkung der erhöhten Cholesterinspiegel entwickeln viele Betroffene häufig schon in jungen Jahren durch Cholesterin-Ablagerungen verursachte Gefäßerkrankungen. Diese bilden die Grundlage für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Andersherum ist bei Menschen, die genetisch bedingt niedrige LDL-Cholesterinspiegel haben, auch das Risiko für einen Herzinfarkt auffallend niedrig. Michael Böhm

Über den Experten

Michael Böhm ist Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum des Saarlandes und Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Seit über 35 Jahren versorgt er täglich Patientinnen und Patienten mit akuten und chronischen Herzerkrankungen. Zudem forscht er intensiv auf den Gebieten Herzinsuffizienz, Bluthochdruck und Atherosklerose.

Optimaler Cholesterinwert: Warum Empfehlungen zu Statinen angepasst wurden

Doch wann ist das Cholesterin noch normal und ab welchem Wert zu hoch? Bei dieser Grenze haben wir es mit einem sogenannten „moving target“, also einer sich bewegenden Zielgröße zu tun. Anfänglich sind cholesterinsenkende Statine in Studien bei Herzinfarkt-Patienten mit aus heutiger Sicht sehr hohen, damals aber keineswegs seltenen Cholesterinwerten geprüft worden. Obwohl die Senkung des Cholesterins auf ein niedrigeres Niveau eine deutliche Reduktion von Todesfällen und erneuten Herzinfarkten zur Folge hatte, blieb ein nicht unerhebliches „Restrisiko“ für schwerwiegende Ereignisse infolge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bestehen.

In nachfolgenden Studien ist dann versucht worden, ausgehend von nunmehr niedrigeren Ausgangswerten, dieses kardiovaskuläre Restrisiko durch noch tiefere Absenkung der Cholesterinspiegel weiter zu verringern. Das gelang in Studien auch mit großem Erfolg. Auf diese Weise sind die Zielwerte für die medikamentöse Normalisierung der Cholesterinspiegel im Blut schrittweise immer weiter gesenkt worden. Wie strikt die Cholesterinsenkung sein sollte, hängt im Übrigen auch davon ab, wie hoch das individuelle Risiko eines Menschen ist, beispielsweise weil schon eine Herz-Kreislauf-Erkrankung besteht oder eben nicht.

Dass ein heute akzeptabel erscheinender Cholesterinwert morgen schon als zu hoch gilt, mag vielen Menschen verwirrend oder verdächtig erscheinen. Dass es dafür gute Gründe gibt, habe ich erläutert. Gleichwohl hat die „Zielwerteveränderung“ bei der Cholesterinsenkung Kritiker auf den Plan gerufen, die darin einen perfiden Trick der nach Steigerung der Pillenverkäufe strebenden Pharmaindustrie wittern. Auch das ist ein Mythos, der durch fragwürdige Medienbeiträge und Blogs weiter befeuert wird. Die Zielwerte sind nicht auf Druck der pharmazeutischen Industrie, sondern stets auf Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage durch internationale medizinische Fachgesellschaften angepasst worden – zum Vorteil der Patientinnen und Patienten.

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Statine: Die Cholesterinsenker der ersten Wahl

Wenn es um die Normalisierung der Cholesterinwerte geht, verordnen Ärzte Statine. Natürlich sollte immer zuvor oder begleitend versucht werden, das kardiovaskuläre Risiko durch Lebensstilmaßnahmen wie Ernährungsumstellung zu senken. Allerdings ist der Effekt der Ernährung auf das Cholesterin eher gering und gerade bei Menschen mit hohem Risiko zumeist nicht ausreichend, um das Cholesterin auf das empfohlene niedrige Zielniveau zu bringen. Ergänzend sind hier also meist Medikamente nötig.

Sie zählen zu den am besten in Studien untersuchten und geprüften Medikamenten überhaupt. Die in den letzten Jahrzehnten in vielen qualitativ hochwertigen Statin-Studien gewonnene Datenmenge ist so groß, dass sich auf dieser Basis der Effekt der Cholesterinsenkung auf klinische Ereignisse inzwischen beziffern lässt.

Eine internationale Expertengruppe, die „Cholesterol Treatment Trialists' (CTT) Collaboration“, hat entsprechende Berechnungen auf der Grundlage von fast 30 wissenschaftlichen Studien mit mehr als 170.000 beteiligten Patienten vorgenommen. Danach führte eine Behandlung mit Statinen, die das LDL-Cholesterin im Blut um 1 mmol/l (das entspricht 40 mg/dl) senkt, in der Gruppe der Behandelten zu einer Abnahme von tödlichen und nicht tödlichen Herzinfarkten, Schlaganfällen, Herzkatheter-Eingriffen und Bypassoperationen um rund 25 Prozent.

Das ist die relative Abnahme. Zu bedenken ist, dass bei Patienten mit sehr hohem Risiko, bei denen dementsprechend in Zukunft mehr kardiovaskuläre Ereignisse zu erwarten sind, bei gleicher relativer Abnahme insgesamt auch mehr Ereignisse durch Statine verhindert werden. Der absolute Nutzen ist hier also größer.

Statin-Unverträglichkeit ist seltener als angenommen

Wie bei allen Medikamenten können auch bei der Einnahme von Statinen Nebenwirkungen auftreten – etwa infolge von Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten. Allerdings kursieren auch darüber falsche Vorstellungen. So sind Statine unter anderem in Zusammenhang mit Vitaminmangel und der Entwicklung von Demenz oder Krebserkrankungen gebracht worden. Auch dies fällt angesichts fehlender wissenschaftlicher Beweise in die Kategorie Mythos.

Die am häufigsten von Patienten beklagten Statin-Nebenwirkungen sind Muskelschmerzen, die insbesondere bei hoher Dosierung auftreten können. Eine „echte“ Statin-Unverträglichkeit ist aber wohl viel seltener als gemeinhin angenommen. Zu diesem Schluss kommt  eine Gruppe von Wissenschaftlern, die für eine Analyse Daten aus 176 Studien mit rund vier Millionen Patienten zusammengetragen und ausgewertet hat. Eine an den Kriterien internationaler Fachgesellschaften festgemachte Statin-Unverträglichkeit wurde nur bei fünf bis sieben Prozent der Patienten festgestellt. Weit mehr als 90 Prozent aller Patienten haben Statine also problemlos vertragen.

Inzwischen gibt es deutliche Hinweise darauf, dass etwa bei muskulären Beschwerden unter Statin-Einnahme häufig ein sogenannter Nocebo-Effekt im Spiel ist. Er besagt, dass es nicht das Statin per se, sondern die etwa durch Medien, Hörensagen oder Beipackzettel geförderte Wahrnehmung negativer Effekte ist, die zu Beschwerden führt.

Auffällig ist jedenfalls, dass in sogenannten verblindeten Studien, in denen die Patienten nicht wissen, ob sie ein Statin oder ein Scheinmedikament (Placebo) einnehmen, die Rate an Muskelbeschwerden stets sehr niedrig ist. Sobald sie Kenntnis von der Statin-Einnahme haben, nehmen die Klagen über entsprechende Symptome gleich um ein Mehrfaches zu. Auch dem Nocebo-Effekt zuzuordnende Beschwerden werden aber vom Patienten real verspürt. Notwendig ist auf jeden Fall eine Abklärung durch den Arzt, welche Gründe wirklich hinter den Beschwerden stecken. Eine direkte Muskelschädigung zum Beispiel durch Arzneimittel-Interaktionen ist unbedingt vom Arzt auszuschließen.

Einnahme von Statinen immer mit Arzt besprechen

Dringend zu warnen ist davor, Statine eigenmächtig und ohne Rücksprache mit den Ärzten aufgrund vermeintlicher Unverträglichkeiten dauerhaft absetzen. Denn das kann, wie Untersuchungen gezeigt haben, böse Folgen haben: Die Häufigkeit von kardiovaskulären Ereignissen nimmt dann wieder zu. Es gilt immer noch der Grundsatz, dass der Mensch so alt wie seine Gefäße ist.

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