Wo die Masernkranken wohnen

Hildesheim mit seinen rund 100.000 Einwohnern war für viele lange nur ein Ort, von dem sie mit Glück wussten, wo er liegt. Seit wenigen Wochen aber steht die niedersächsische Kleinstadt stellvertretend für ein Problem, das Deutschland nicht in den Griff bekommt: die Masern.

Nach einem Ausbruch im März durften 80 Schüler eine Gesamtschule nicht betreten, weil ihnen Impfungen gegen die potenziell lebensbedrohliche Infektionskrankheit fehlten. Abiturienten versäumten ihre schriftlichen Prüfungen. Nicht zuletzt deshalb entbrannte in Deutschland eine Debatte um eine Impfpflicht, neben Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich auch Familienministerin Franziska Giffey (SPD) für verpflichtende Spritzen ausgesprochen.

Die Diskussion vermittelt den Eindruck, dass Deutschland dieses Jahr besonders unter den Masern leidet. Tatsächlich hat es 2019 in mehreren Bundesländern bislang noch gar keinen Erkrankten gegeben. In anderen wiederum häufen sich die Fälle. Im Vergleich ist 2019 bislang zwar ein überdurchschnittliches, aber kein außergewöhnliches Jahr. Der Überblick:

In diesen Bundesländern gab es bis Mitte März die meisten Masernfälle

Bis Mitte März haben sich in Deutschland laut Robert Koch-Institut insgesamt 236 Menschen mit den Masern infiziert. Obwohl die Fälle in Hildesheim viel Aufmerksamkeit auf sich zogen, steht Niedersachsen nicht an der Spitze der am stärksten betroffenen Bundesländer:

  • Die mit Abstand meisten Fälle gab es stattdessen in Nordrhein-Westfalen. Dort zählten Ärzte bis Mitte März 92 Masernkranke. Selbst wenn man berücksichtigt, dass NRW die meisten Einwohner hat, infizierten sich dort relativ gesehen mehr Menschen als in allen anderen Bundesländern.
  • Auf den nächsten Plätzen folgen Baden-Württemberg (36 Masernfälle bis Mitte März), Niedersachsen (31 Masernfälle bis Mitte März) und Bayern (30 Masernfälle bis Mitte März).

Das Mittelfeld der Liste reicht von Hessen (16 Fälle) bis Schleswig-Holstein (ein Fall). In fünf der 16 Bundesländer meldeten Ärzte bis Mitte März noch keine Erkrankung: Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Sachsen-Anhalt.

Masernfälle 2019 (bis zum 17. März)

Das bedeutet nicht, dass diese Bundesländer vor einem Ausbruch gefeit sind. Masern zählen zu den ansteckendsten Erregern überhaupt. Kommt ein Infizierter mit einem Menschen in Kontakt, der nicht durch eine Impfung oder frühere Erkrankung geschützt ist, erkrankt dieser mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent.

Wie schnell und punktuell sich Masern-Ausbrüche entwickeln können, zeigt das Beispiel Berlin. Dort dokumentierten Ärzte 2019 bislang nur sieben Masernfälle. 2015 lag die Zahl Mitte März bereits bei 699 – der größte deutschlandweite Ausbruch der vergangenen zehn Jahre.

Die aktuelle Masern-Situation im Zehn-Jahres-Vergleich

Bis Mitte März haben sich dieses Jahr zwar schon deutlich mehr Menschen infiziert als 2018. Damals gab es knapp mehr als 80 Fälle, heute sind es mehr als 230. Im Zehn-Jahres-Vergleich ist 2019 ebenfalls ein überdurchschnittliches, aber – anders als die aktuelle Diskussion vermuten lässt – kein extremes Masernjahr.

Die mit Abstand meisten Fälle ereigneten sich 2015, damals dokumentierte das RKI in den ersten elf Wochen des Jahres fast 1100 Fälle. Neben Berlin mehrten sich damals die Masernerkrankungen auch in Bayern (72 Fälle), Sachsen (70 Fälle) und Brandenburg (67 Fälle).

Der Ausbruch in Berlin zeigt, was passieren kann, wenn das hochansteckende Virus auf viele Ungeimpfte trifft. Städte sind besonders häufig von Ausbrüchen betroffen, da dort die Menschen dichter zusammenleben. Außerdem treffen sich dort besonders viele Reisende, was das Risiko erhöht, dass jemand die Masern aus einer anderen Region mitbringt.

Es kann alle Bundesländer treffen – fast

Ein Blick auf die RKI-Zahlen der kompletten vergangenen zehn Jahre zeigt, dass fast kein größeres Bundesland vor einem Masern-Ausbruch gefeit ist – mit einer Ausnahme.

Nirgendwo in Deutschland ist das Risiko, sich mit den Masern zu infizieren, so niedrig wie in Mecklenburg-Vorpommern. Seit 2009 sind in dem Land trotz seiner rund 1,6 Millionen Einwohner nur 25 Menschen an Masern erkrankt – 16 der Fälle ereigneten sich gebündelt 2015 und traten vereinzelt und zeitgleich mit dem Ausbruch in Berlin auf. In den Jahren 2009 und 2012 infizierte sich in ganz Mecklenburg-Vorpommern nicht ein Mensch.

Neben der geringen Bevölkerungsdichte könnten auch die hohen Impfquoten zur Masern-Freiheit beitragen. 2016 hatten in Mecklenburg-Vorpommern laut RKI 95,8 Prozent der Kinder bei der Einschulung beide notwendigen Masern-Impfungen erhalten, so viele wie nirgends sonst.

Masern sollten in Deutschland 2015 ausgerottet sein

Eigentlich hatte sich Deutschland in Absprache mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Ziel gesetzt, die Masern bis 2015 auszurotten. Dafür müssten mindestens 95 Prozent der Menschen zweimal gegen den Erreger geimpft sein. Bei den Kindern, die 2016 in Deutschland eingeschult wurden, hatten zwar 97,1 Prozent die erste Impfung erhalten. Die zweite Spritze konnten jedoch nur 92,9 Prozent vorweisen.

Dass manche Eltern vor allem Masern-Impfungen ablehnen, hat auch mit Fehlinformationen zu tun, die noch immer im Internet kursieren. 1998 behauptete ein Forscherteam um Andrew Wakefield, Schutzimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln könnte Autismus verursachen. Aufgrund einer „unehrlichen“ Darstellung der Ergebnisse wurde die Veröffentlichung zurückgezogen. Wakefield musste seine Zulassung als Arzt abgeben.

Mittlerweile haben zahlreiche Studien einen Zusammenhang zwischen der Impfung und Autismus eindeutig widerlegt (zuletzt hier). Trotzdem wirkt sich der Schaden der Falschinformationen bis heute aus.

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