Notfall am fünften Tag in der Klinik

Der 54-Jährige ist gerade an dem Versuch gescheitert, vom Alkohol loszukommen. Seit vielen Jahren ist er süchtig. Schon seine Eltern waren Alkoholiker, auch seine Brüder sind abhängig. Nachdem er ein Entzugsprogramm abgebrochen hat, trinkt der obdachlose Mann über mehrere Tage zwei bis dreieinhalb Liter Wodka täglich – bis zur Bewusstlosigkeit.

An einem Abend nimmt er sich erneut fest vor, mit dem Trinken aufzuhören. Zehn Stunden später wacht er auf dem Boden liegend und zitternd auf. Er kann sich nicht erinnern, dass er sich hingelegt hat. Der Mann fürchtet, dass er einen Schlaganfall erlitten hat und sucht die Notaufnahme im Massachusetts General Hospital in Boston auf.

Wie Insekten über die Haut krabbeln

Er erzählt den Ärzten, dass er Kopfschmerzen hat, ihm schwindelig ist, er sich übergeben musste und sich rastlos fühlt. Er hört Geräusche, die nicht da sind, und hat das Gefühl, es würden Insekten über seine Haut krabbeln.

Das US-Ärzteteam um Andrew Fenves erfragt die Krankengeschichte des Patienten. Als Kind litt er unter epileptischen Anfällen. Er hat Bluthochdruck, seine Augen sind von Grünem Star betroffen. Der Mann nimmt Gabapentin, ein Medikament gegen Krampfanfälle und Nervenschmerzen, sowie Hydroxyzin, das unter anderem Angst und Spannungszuständen entgegenwirken soll. Er raucht zehn bis 20 Zigaretten pro Tag.

Bei der körperlichen Untersuchung sehen die Mediziner klare Anzeichen eines Alkoholentzugsyndroms: Das Herz des Mannes schlägt zu schnell, sein Blutdruck ist erhöht, ebenso seine Körpertemperatur. Er zittert leicht, wirkt unruhig und ängstlich.

Zudem ist sein Blut übersäuert, was ebenfalls auf den extremen Alkoholkonsum zurückzuführen ist.

Nach einer Computertomografie des Kopfes können die Ärzte erst einmal Entwarnung geben: Es gibt keine Anzeichen für einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung, wie sie im „New England Journal of Medicine“ berichten.

Der Mann wird in die Klinik aufgenommen und soll dort bleiben, bis er in eine Suchtklinik überwiesen werden kann. Er erhält eine Mischung aus Vitaminen, das Beruhigungsmittel Lorazepam sowie den Wirkstoff Phenobarbital, der dem Alkoholentzugsyndrom entgegenwirken soll.

Tatsächlich klingen die Beschwerden und die Übersäuerung ab. Zwar sagt der Patient, dass er weiterhin einen starken Drang habe, Alkohol zu trinken, insgesamt scheint er aber auf dem Weg der Besserung.

Plötzlich geht es ihm wieder schlecht

Am fünften Tag verschlechtert sich der Zustand des Mannes jedoch schlagartig. Nur eine Stunde nachdem er ansprechbar war, befindet er sich plötzlich in einem Delirium und reagiert kaum. Sein Zimmer hat er in der Zeit nicht verlassen.

Was ist geschehen?

Tests zeigen: Sein Herz rast wieder, der Atem geht zu schnell. Im Blut befindet sich nicht genug Sauerstoff, aber zu viel Zucker. Beim Abtasten bemerken die Ärzte eine Ausdehnung am Bauch, der Patient zeigt dort aber keine Abwehrspannung. Die Mediziner geben verschiedene Tests in Auftrag.

Am folgenden Tag muss sich der Patient übergeben. In seinem Stuhl ist Blut. Auf einer Computertomografie erkennen die Ärzte weite Dünndarmschlingen, deren Wände verdickt sind, was auf eine Entzündung hindeutet. Sie saugen knapp einen halben Liter dunkelbraunen Inhalts aus dem Dünndarm ab und geben dem Mann Antibiotika.

In seinem Urin finden sich zusätzlich sogenannte Ketone. Erneut ist sein Blut übersäuert, im Fachjargon sprechen Ärzte von einer metabolischen Azidose mit vergrößerter Anionen-Lücke.

Warum hat sich sein Blut übersäuert?

Wie konnte diese Form der Übersäuerung entstehen? Die Ärzte gegen alle Möglichkeiten durch:

  • Es gibt angeborene Defekte, die dies erklären könnten. Das schließen die Mediziner aus, denn dann hätte der Mann schon vor Jahrzehnten eine entsprechende Diagnose erhalten müssen.
  • Kann das Phenobarbital die Probleme ausgelöst haben? Auch das halten die Ärzte aufgrund der Medikamentendosis für sehr unwahrscheinlich.
  • Liegt eine sogenannte Ketoazidose vor, die durch Alkoholkonsum, Diabetes oder extremes Hungern ausgelöst werden kann? Auch dies verneinen die Ärzte. Denn der Mann hatte keinen Zugang zu Alkohol, sein Blutzucker ist nur leicht erhöht, und er hat das Krankenhausessen gegessen.
  • Haben seine Nieren versagt? Zu dieser Annahme passen die Blutwerte nicht.
  • Es bleibt folgende Ursache: Der Mann muss eine andere Droge oder ein Gift eingenommen haben.

Die Ärzte gehen durch, welche Flüssigkeiten der Mann im Zimmer hatte: Da ist zum einen ein Mundwasser, das Benzoesäure enthält, sowie das Handdesinfektionsmittel, das zu gut 60 Prozent aus Isopropanol besteht. Letztere Substanz ist, wie Ethanol auch, ein Alkohol und wird unter anderem als Lösungsmittel eingesetzt. Die Ärzte sind sich einig: Das Trinken des Desinfektionsmittels muss grauenhaft sein.

Trotzdem hat der Mann dies getan.

Ein spezieller Test auf Basis einer sogenannten Gaschromatografie zeigt eine Menge Aceton im Blut des Mannes. Isopropanol wird im Körper zu Aceton umgewandelt. Das geschieht so schnell, dass diese Substanz zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Blut auffindbar ist.

Auch die vergrößerte Anionen-Lücke, über die sich die Ärzte gewundert haben, lässt sich wohl durch den Isopropanol-Konsum erklären. Der Test wurde wohl durch die größere Aceton-Menge im Blut verfälscht.

Als der Patient wieder ansprechbar ist, bestätigt er den Verdacht der Ärzte. Er hat das Desinfektionsmittel getrunken.

Der 54-Jährige wird nach knapp zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen. Er geht direkt in ein Programm, das ihn dabei unterstützen soll, künftig abstinent zu leben.

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