Mediziner über digitale Krankenakte: "Patienten haben das größte Recht auf dieses Wissen"

Herr Esch, „OpenNotes“, ein digitaler Zugang für Patienten zu den Behandlungs-Aufzeichnungen ihrer Ärzte, feiert bald seinen zehnten Geburtstag. Heute können Millionen Amerikaner auf die Aufzeichnungen zugreifen, die ihre Hausärzte machen. Offenbar ist das sehr populär?

Absolut. Ich habe selbst in Amerika über das Projekt geforscht, an der Harvard University. Es hat sich als große Errungenschaft erwiesen, dass die Patienten auf die Notizen aus den Konsultationen zugreifen können. Zuvor wussten wir bereits, dass viele Menschen sich nicht erinnern, was ihr Arzt ihnen erklärt oder diagnostiziert hat und wie seine Verordnung zu verstehen ist. In US-amerikanischen Befragungen dazu, direkt nach dem Termin, konnte die Hälfte der Patienten nicht genau wiedergeben, was alles untersucht und besprochen wurde.

Wie kommt es zu diesem Kommunikationsproblem?

Es gibt eine ganze Reihe von Gründen dafür – die Kürze der Zeit, die Komplexität der ärztlichen Mitteilungen und auch Zeitdruck in der Allgemeinarztpraxis. Aber ebenso wissen wir, dass eine Diagnose schlicht überwältigend sein kann, etwa, weil sie eine unerwartet schlechte Nachricht bedeutet. Man benötigt dann einfach Zeit, um sich zu besinnen. OpenNotes bietet die Möglichkeit, in Ruhe noch einmal alles anzuschauen, was der Arzt festgehalten hat, und das auf eine sehr unkomplizierte elektronische Weise. Ich brauche dazu nur einen Computer und eine E-Mail-Adresse. Die älteste Patientin, die ich in Amerika hatte, war 87 Jahre alt, chronisch krank und ganz gewiss nicht jemand, der den ganzen Tag mit allerlei modernen Geräten zubringt. Aber Computer und E-Mail hatte sie auch – und konnte teilnehmen.

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Angehörige werden ebenfalls als Leser einbezogen, wenn es gewünscht ist.

Wenn Sie als Patient den Wunsch haben, können Sie auf sehr einfache Weise elektronisch mitlesen lassen und Hilfe in Anspruch nehmen. Angenommen, Ihre Mutter war in Stuttgart beim Arzt, und Sie sitzen mit mir in Berlin zusammen. Über Ihr Notebook könnten auch Sie die Befunde und die Original-Dokumentation des Arztes anschauen und mit Ihrer Mutter erörtern. Das kenne ich aus meiner Familie auch, aber traditionell läuft es so, dass meine Mutter eine Kopie des Arztbriefes auf Papier ausgedruckt bekommt, wenn überhaupt, und wir den dann am Telefon diskutieren müssen. Das ist ziemlich ineffizient und altmodisch.

Wie konnte die Idee in Amerika so gut Fuß fassen?

Zunächst war OpenNotes nur ein Experiment in drei recht übersichtlichen Regionen. Es war die langjährige Vision von Tom Delbanco, der als Medizin-Professor in Harvard später mein Mentor wurde. Bereits 1998 wurde seine Idee auf einem internationalen Seminar in Salzburg intensiv diskutiert, 2010 wurde sie schließlich verwirklicht. 2017 konnten wir bei einem erneuten Treffen in Salzburg darüber staunen, wie weit es vorwärts gegangen ist.

Was erhoffte Delbanco von seiner Innovation?

Sein Lebensthema ist es, durch Transparenz bei der ärztlichen Behandlungs-Dokumentation nicht nur Patienten zu helfen, mit ihren Diagnosen und Therapien selbstbestimmter umgehen zu können, sondern auch Ärzten, deren Kommunikation mit den Patienten verbessert wird. Gemeinsam würden, so hoffte er, Mediziner und Patienten zu besseren Behandlungsergebnissen kommen. In einer umfassenden Untersuchung, die ich mit Kolleginnen und Kollegen 2016 publizieren konnte, zeigte sich bereits, dass viele seiner Hoffnungen übertroffen wurden. Toms Bild einer transparenten Kommunikation auf Augenhöhe lässt sich mit einem Satz zusammenfassen: „Nothing about me without me.“ Ein Wunsch vieler Patienten – und deren Ärzte.

Auf einer Tagung berichtete kürzlich Liz Salmi, die einen Gehirntumor überlebt hat, wie sie zu OpenNotes fand. Sie forderte ihre gesamte Patientenakte an – und bekam eine PDF-Datei mit 4836 Seiten!

Darin waren auch die ärztlichen Notizen von all ihren Konsultationen enthalten. Sie machen in der Regel einen wesentlichen Teil einer solchen elektronischen Patientenakte aus. Bei OpenNotes erhalten die Patienten diese Daten und Dokumente direkt von ihrem behandelnden Arzt, in der Regel zeitnah nach einzelnen Arztbesuchen. Normalerweise sind das gut zu bewältigende Informationen, denn die Inhalte wurden ja im Arztbesuch zuvor konkret besprochen. Liz Salmi bekam sie von ihrer Krankenversicherung im Paket zugeschickt, denn seit der Clinton-Regierung in den 1990er Jahren haben alle Amerikaner das Recht, ihre medizinischen Aufzeichnungen vollständig zu erhalten.

Mediziner Tobias Esch findet, auch deutsche Patienten sollten ihre Krankenakte online lesen können

Ausnahmslos?

Es gibt im Gesetz, und das wird selbstverständlich auch bei OpenNotes so gehalten, eine wesentliche Ausnahme: Wenn Ärzte den Verdacht auf eine schwerwiegende psychische Erkrankung hegen. Es ist ja naheliegend, dass es riskant wäre, beispielsweise einen Suizidgefährdeten mit angsteinflößenden Befunden zu konfrontieren. Das wäre eine medizinisch und ethisch gebotene Abweichung von der Transparenz. Ansonsten gilt sie immer. Übrigens gibt es im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch einen analogen Paragrafen. Auch bei uns haben die Patienten ein gesetzlich verbrieftes Recht auf ihre medizinischen Daten und Dokumentationen. Auch hier gilt, dass der Nutzen der Transparenz und die Selbstbestimmung der Patienten primär im Vordergrund stehen müssen.

Und sie wird von den Patienten geschätzt?

Unsere Forschung zeigte, genau das ist der Fall. Dabei gibt es große Unterschiede, wie intensiv die ärztlichen Notizen gelesen werden. Ein typischer Fall ist: Nach einem Arztbesuch lese ich mir noch einmal durch, was notiert wurde. Und vor dem nächsten Besuch nutze ich die Aufzeichnungen, um gut vorbereitet zu sein.

Könnten so Reibungsverluste geringer werden?

Ja, denn es steigert die Konzentration im Dialog. Bemerkenswert war zusätzlich, dass ein sehr großer Teil der Patienten durch gründliches Lesen der Aufzeichnungen Fehler darin fand. Oft waren es kleine Ungenauigkeiten, aber zum Teil kam es auch vor, dass echte Missverständnisse ausgeräumt werden konnten, die womöglich zu einer anderen Diagnose führten. Erstaunlich häufig fanden die Patienten Abweichungen in der Medikation – irgendetwas stimmte nicht überein zwischen dem, was sie verstanden hatten oder praktizierten und dem, was der Arzt dokumentiert hatte. Eines aber ist dabei sehr wichtig: Der Regelfall war überhaupt nicht, dass die Patienten ihren Ärzten solche Fehler verübelten. Sie halfen einfach mit, sie zu beseitigen und verbesserten so ihre Versorgung.

Wie war es mit den Ärzten, hegten sie in dieser Hinsicht Befürchtungen?

Es ist mittlerweile sicher, dass nur ein verschwindend geringer Teil der teilnehmenden Ärzte den OpenNotes nicht treu bleiben möchte. Der Zuspruch ist wirklich überwältigend, und auch die befragten Patienten wünschen sich, dass nach Möglichkeit immer mehr Ärzte zu diesem Projekt dazustoßen werden.

Vermutlich bekommen sie auch in der Praxis Zuspruch dafür?

Eines unserer interessantesten Forschungsergebnisse ist, dass sich die Arzt-Patient-Beziehung mit OpenNotes dramatisch verbessert hat – insbesondere das Vertrauen der Patienten zu ihren Ärzten. Weil man sie mitlesen lässt. Viele Patienten staunten, wie viele Informationen der Arzt ihnen tatsächlich gegeben hatte und wie treffend die waren. Denn, wie gesagt, vieles hatten sie zu Hause bereits wieder vergessen.

Liz Salmi hat erzählt: Informationen über die Krankheit, die sie hatte, konnte sie zuvor schon im Netz reichlich finden – aber eben nicht über ihren ganz individuellen Fall.

Nach dem Studium der Humanmedizin in Göttingen forschte er u. a. an der Harvard Medical School und der Berliner Charité. Seit 2016 ist er Professor für Integrative Gesundheitsversorgung/ Gesundheitsförderung und Prodekan für Organisationsentwicklung an der Universität Witten/ Herdecke.

Das beeindruckt mich als Arzt am meisten: Wenn Sie erleben, wie eine Patientin oder ein Patient entdeckt, dass er oder sie mit seinem Informationsbedürfnis vollkommen ernst genommen wird und daran mitwirken kann, wieder gesund zu werden, auf gleiche Augenhöhe zu kommen. Daneben gibt es natürlich auch ganz praktische Vorteile – so wird es für sie viel einfacher, mithilfe ihrer Aufzeichnungen selbstständig Rat weiterer Mediziner zu suchen oder gezielt nachzufragen. Das Besondere an OpenNotes ist, dass es sich um das Original handelt – Sie bekommen als Patient von Ihrem Arzt im Anschluss an einen direkten, physischen Kontakt mit ihm einen authentischen Bericht und Einblick. Sie brauchen sich nichts aus Ihrem Gedächtnisprotokoll, aus externen Quellen oder von Dritten mühsam zusammenzusuchen, sondern Sie erhalten das Unmittelbare und „Echte“, und Sie sind in Ihrem Fall dann auf dem gleichen Stand wie Ihre Therapeuten und Behandler. Das schafft Wissen und Kompetenz, verbessert die Selbstmanagement- und Koordinationsmöglichkeiten der Patienten und beseitigt Kommunikationsbarrieren und Fehlerquellen. Insgesamt macht es die Arzt-Patienten-Interaktion effizienter.

Trotz des immensen Erfolgs von OpenNotes hat Mitgründer Tom Delbanco selbst darauf hingewiesen, dass es Vorbehalte gegen Transparenz geben wird, zum Beispiel bei besonders geschäftstüchtigen Ärzten – wenn der lesende Patient sich wundert, was alles in einen Acht-Minuten-Termin gepasst haben soll. Darüber werde nicht offen gesprochen. Sondern lieber über Bedenken beim Datenschutz.

Natürlich hat Transparenz immer auch Konsequenzen, die nicht jedermann gefallen. In Deutschland, wo Datenschutz ja sehr groß geschrieben wird, kommt es darauf an, dass wir ganz klar sagen, dass es bei einem solchen Projekt um die Qualität in der Medizin geht. Und um die Rechte der Patienten – nicht um die Interessen von Krankenversicherungen zum Beispiel. Für diesen Verdacht gibt es eigentlich keinen Anlass, denn zurzeit weiß meine Krankenkasse ohnehin oft mehr als ich selbst.

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Bei dermaßen vielem, was man über Hacker und Sicherheitslecks im Netz hört, ist die Sorge verständlich, dass solch sensible Daten wie medizinische Aufzeichnungen auch entwendet werden könnten.

Klar, diese Sorge liegt erst mal nahe: „Oh, so viele Daten von mir sind bereits online oder liegen auf irgendwelchen Servern herum. Nun werden es noch mehr, und dazu so intime!“ Doch in Wahrheit ändert sich durch OpenNotes am existierenden Datenbestand gar nichts. Wenn beispielsweise der Arztrechner nicht sicher ist, wird ein Hacker ihn heute schon stehlen können – auch meine persönlichen Daten. Was sich ändert, ist, dass es einen Akteur mehr gibt, der diese Daten lesen kann: mich selbst!

Ich bin bislang der einzige Beteiligte, der meine eigenen Daten nicht kennt?

Das ist der Clou. Man vermutet, dass neue Daten erzeugt würden über mich, den Patienten. Aber das ist nicht der Fall, diese Daten sind sowieso alle da, sie existieren. Bloß ich selbst, dem sie eigentlich gehören, habe keinen Zugang dazu. Lediglich der Nutzerkreis wird erweitert.

Wie sind die Erfahrungen mit Datensicherheit in den USA?

Bis heute ist kein Fall bekannt geworden, bei dem es zu einem Datenraub aus dem OpenNotes-System gekommen wäre. Und das bei mittlerweile mehr als 35 Millionen Usern. Aber noch mal: Natürlich steigt mit der Zahl der Nutzer auch die Gefahr von Datenlecks. Das ist jedoch grundsätzlich kein Gegenargument, denn OpenNotes adressiert zwar das Thema der Transparenz in der Arzt-Therapeut-Patienten-Kommunikation, ist aber keine Software und auch kein Produkt. Elektronische Patientenportale und -akten helfen fraglos, sind aber keine „Conditio sine qua non“ – keine Voraussetzung für OpenNotes. Prinzipiell geht vollständige Transparenz auch in einer analogen Welt, auch mithilfe der guten, alten Papierform.

Ist es schwierig, deutsche Mediziner von einem Konzept wie OpenNotes zu überzeugen?

Ich treffe vielerorts auf eine positive Neugier, aber auch die Vorbehalte geben ein ziemlich klares Bild wieder: Da ist vor allem die Sorge, dass mich – als Arzt – jemand kontrollieren möchte. Noch einer mehr blickt mir sozusagen bei der Arbeit über die Schulter, und das tun ja bereits viele andere. Werde ich künftig nicht nur von Politik und Kassen drangsaliert – so das Empfinden – sondern auch noch vermehrt von meinen Patienten? Aber abgesehen davon, dass die Patienten das größte Recht auf dieses Wissen haben, weil sie die eigentlichen Betroffenen sind, haben wir in Amerika bewiesen: Wenn man solch ein Projekt zwei Jahre laufen lässt, überzeugt es durch die positiven Erfahrungen.

Am Ende sind praktisch alle dafür?

OpenNotes wird nicht nur von den amerikanischen Verbraucherorganisationen unterstützt – was zu Beginn keineswegs absehbar war – sondern mittlerweile auch von den wichtigsten Ärzteorganisationen und -verbänden, vergleichbar unserer hiesigen Bundesärztekammer oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. War man anfangs noch skeptisch, spricht man heute vom „neuen Standard“ in der Medizin. Das wird bei uns nicht anders sein.


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