Krebsmediziner: Was Patienten derzeit Hoffnung macht, verdanken wir Corona

Zehntausende Krebs-OPs wurden aufgrund von Corona verschoben, Vorsorgetermine entfielen aus Angst vor einer Ansteckung. Doch es gibt auch eine positive Seite der Pandemie: FOCUS Online hat mit Onkologe Dirk Jäger über einen Bereich gesprochen, in dem die Krebsmedizin profitiert.

FOCUS Online: Gegen Covid-19 wurde in Rekordzeit an einem Heilmittel geforscht. Die Bundesregierung hat die Impfstoffhersteller mit mehreren hundert Millionen Euro unterstützt. Einen derartigen Forschungsturbo gab es gegen Krebs bislang nicht. Dabei sterben in Deutschland jedes Jahr mehr als 230.000 Menschen daran. Ist das für Sie als Krebsmediziner frustrierend, Herr Jäger?

Dirk Jäger: Natürlich würde ich mich freuen, wenn die Förderung in der Krebsforschung großzügiger ausfallen würde. Doch selbst wenn wir in diesem Jahr eine Milliarde Euro für die Krebsforschung bekämen, könnten wir das Problem damit nicht lösen. Die Behandlung von Krebs ist so viel schwieriger als die eines definierten Virus. Kein Tumor ist mit einem anderen vergleichbar. Insofern ist die Lösung des Krebsproblems wahrscheinlich überhaupt nicht möglich und die stete Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten eine langfristige Anstrengung. Sie geht in kleinen Schritten voran und so muss auch eine Förderung auf lange Sicht erfolgen.

Über den Experten

Dirk Jäger ist Leiter der Abteilung Medizinische Onkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankung in Heidelberg.

In einem Bereich kommt die Covid-19-Forschung der Krebsmedizin sogar zugute: Die mRNA-Technologie, die auf der Suche nach einem Covid-19-Impfstoff vorangetrieben wurde, könnte sich auch zur Bekämpfung von Tumoren eignen.

Jäger: Ja, in der Krebsmedizin wird die mRNA-Technologie schon länger getestet. Sie hat den Vorteil, dass man statt ein Eiweiß einzusetzen, das als Impfung verwendet wird und in der Herstellung sehr aufwendig ist, nur die codierende Information in den Muskel spritzt – die Information zur Herstellung dieses Eiweißes. Der Körper kann dann damit selbst das entsprechende Eiweiß aufbauen. Das Immunsystem bemerkt das und wird aktiv. Ziel ist es, das Immunsystem gezielt zu aktivieren, damit es gegen bestimmte Tumor-Eiweiße vorgeht, die idealerweise nur in der Krebszelle vorhanden sind und in keiner gesunden Körperzelle.

Die RNA-Herstellung ist wesentlich einfacher, schneller und kostengünstiger als ein künstliches Eiweiß herzustellen, wie das bei Impfungen bislang der Fall war. Durch Corona sehen wir nun auch, dass diese Art der Impfung verträglich ist und hocheffektiv. Das wird das Verfahren auch in der Krebsmedizin massiv beschleunigen.

Die Anwendung in der Krebsmedizin ist aber wesentlich komplexer als bei Covid-19, weil wir nicht eine Zielstruktur für alle Patienten haben. Jeder Tumor ist anders. In klinischen Studien in Mainz wird derzeit für jeden einzelnen Krebspatienten evaluiert, welche Strukturen in seinem Tumor geeignete Zielstrukturen sind. Dann wird ein individueller Impfstoff konzipiert, der nur für diesen Patienten gebaut und hergestellt wird.

mRNA-Impfstoff: Einsatz bei Covid-19 und Krebs

Ein mRNA-Impfstoff enthält nur die Erbinformationen eines Virus, nicht das Virus selbst. So gelangt nur eine „Bauanleitung“ in den Körper, mit deren Hilfe das Immunsystem aber ebenfalls Antikörper bilden kann. Dieses Verfahren lässt sich nicht nur gegen Covid-19 anwenden, sondern auch bei Krebs – allerdings mit gewissen Unterschieden:

  • Weil es sich bei Covid-19 um ein ganz bestimmtes Virus – nämlich Sars-CoV-2 – handelt, bekommt jeder Menschen denselben Impfstoff gespritzt. Krebstumore unterscheiden sich jedoch stark voneinander. Jeder Krebspatient bräuchte daher einen mRNA-Impfstoff, der speziell für ihn hergestellt wurde.
  • Während eine Covid-19-Impfung vor einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 schützen soll, kann ein entsprechender mRNA-Impfstoff nicht vor einer Krebserkrankung schützen. Stattdessen könnte er Teil der Behandlung eines bereits erkrankten Patienten sein.

Ein potenzieller Impfstoffkandidat wäre zum Beispiel ein Krebspatient, der bereits eine Operation hinter sich hat, bei der sein Tumor entfernt wurde, der aber noch immer mikroskopisch kleine Tumorreste im Körper trägt. Er könnte zunächst im Abstand von ein bis zwei Wochen, später seltener, eine Impfung bekommen, um die Immunantwort seines Körpers immer wieder anzuregen, damit sein Immunsystem die Reste bekämpft.

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Jeder Proband erhält also seinen ganz eigenen mRNA-Impfstoff. Individualität ist Ihnen sehr wichtig: Sie plädieren dafür, jeden Tumor tiefgehend zu analysieren, Therapien speziell auf einen einzelnen Patienten abzustimmen. Das klingt sinnvoll, aber auch sehr aufwendig. Wo liegen die Stärken, aber auch die Grenzen dieser Strategie?

Jäger: Wir sind in der Onkologie gewohnt, Standards zu definieren für Diagnostik und Therapie. Das heißt dann vereinfacht gesagt, dass zum Beispiel jede Patientin mit Brustkrebs mit derselben Standardtherapie behandelt wird. Aber jedes Mammakarzinom unterscheidet sich erheblich von einem anderen. Also müssen wir andere Wege gehen, um die bestmögliche Therapie für die individuelle Erkrankung zu designen.

Das ist extrem aufwendig, weil wir tief in den Tumor hineinschauen müssen, molekulare und immunologische Diagnostik betreiben müssen und dann für jeden Patienten ein spezielles Medikament oder eine individuelle Therapieform hergestellt werden muss. Aber dieser Aufwand kann sich lohnen, wenn wir zeigen können, dass ein solches Vorgehen erheblich effizienter ist als der sogenannte Standard of Care. Und es kann am Ende sogar Kosten sparen, weil nicht-effektive Therapien und Langzeittherapien wegfallen und wir vielleicht bereits mit einer Einmal-Therapie erfolgreich sind. Aber das müssen wir erst noch zeigen.

Wo stehen wir mit der individuellen Therapie aktuell?

Jäger: In Studien mit zellbasierten Therapien versuchen wir derzeit, für jeden einzelnen Patienten zu evaluieren: Hat er bereits eine körpereigene Immunantwort, die sich gegen den Tumor richtet? Das ist von Patient zu Patient komplett unterschiedlich. Diese Immunantwort versuchen wir dann zu isolieren und zu vervielfältigen, genetisch so zu verändern, dass wir dem Patienten eine deutlich stärkerer Variante zurückgeben können. Jeder bekommt also eine komplett andere Therapie.

Auch bei den Therapie-Ansätzen mit Impfstoffen laufen Studien, in denen wir jedem Patienten eine komplett andere Vakzine geben. Wir machen dafür eine Genomsequenzierung, identifizieren alle Mutationen, finden heraus, welche davon zu fehlerhaften Eiweißen führen, die für das Immunsystem besonders gut sichtbar sind. Diese Mutationen werden dann als mRNA hergestellt und dem Patienten gespritzt. Das heißt: Auch hier bekommt jeder einen vollkommen anderen mRNA-Cocktail.

Derzeit ist auch eine Studie mit mehr als 1200 Patienten angesetzt, bei denen der Primärtumor herausoperiert wurde, die aber noch ein recht hohes Rückfallrisiko haben. Hier erhofft man sich, Daten zu gewinnen, die zu einer Zulassung des mRNA-Verfahrens in der Onkologie führen könnten.

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