Im Jahr 2020 starben 155 Jugendliche an Suizid – wo Eltern rechtzeitig Hilfe finden

Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen. Diese tragischen Tode wären vermeidbar, sagt die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Marburg, Katja Becker. Worauf Angehörige achten sollten, wo Sie Hilfe finden und warum das Thema mehr Aufmerksamkeit braucht.

Viel hat nicht gefehlt bei Julie (*Name geändert) und sie hätte eine der Zahlen der durch Suizid Verstorbenen in der jährlich erscheinenden Todesursachenstatistik sein können. So sagt sie es heute rückblickend. Bei ihr war es ein aufmerksamer Mitschüler gewesen, der sie ansprach. Ihr Blick ins Leere sei ihm aufgefallen, habe der Zwölftklässer ihr später gesagt, und er habe sich Sorgen gemacht.

Schon Wochen zuvor habe Julie immer weniger Freude an Aktivitäten gehabt, die ihr früher Spaß gemacht hätten, Freundinnen habe sie weniger getroffen, konzentrieren im Unterricht fiel schwer. Richtig traurig sei sie nicht gewesen, das wäre ja wenigstens ein Gefühl gewesen. Sie habe Wochen lang gar nichts gefühlt, alles sinnlos gefunden. Nichts habe ihr mehr etwas bedeutet. Schlafstörungen quälten sie, ständiges Gedankenkreisen und Selbstzweifel. Dazu noch Selbstvorwürfe, denn einen „Grund“ für ihren Zustand gab es nicht. Stabiles Elternhaus, gute Schülerin, beliebt im Freundeskreis.

Jetzt zehn Wochen später geht es ihr wieder gut, sie trifft sich wieder mit Freundinnen, geht zum Sport, der Schlaf ist wieder normal. Rückblickend wundere sie sich selbst über sich, warum sie nicht einfach mit ihren Eltern, der Schulpsychologin oder der Vertrauenslehrerin gesprochen habe. Heute erscheint ihr das naheliegend.

Fotostudio Laackman Marburg

Über die Expertin

Prof. Dr. Katja Becker ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie und leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Marburg. Sie ist Professorin an der Philipps-Universität Marburg und wurde u. a.mit dem Kramer-Pollnow-Preis und dem Frauenförderpreis ausgezeichnet. Ihr mit Helmut Remschmidt herausgegebenes Lehrbuch im Thieme-Verlag gehört zu den Standardwerken der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien psychische Erkrankungen besser zu erklären ist ihr wichtig, am besten so, wie die Sendung mit der Maus es tut.

Der Mitschüler hatte alles richtig gemacht, sie angesprochen, ihr zugehört und sie überzeugt, dass sie sich an die Vertrauenslehrerin wendet und sie dorthin begleitet. Es folgte ein Aufenthalt in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der eine Depression diagnostiziert und behandelt wurde. Die drängenden Suizidgedanken bei Aufnahme waren bei Julie schon nach zwei Tagen deutlich weniger.

Wann Sie aufmerksam werden sollten

Leider ist das Jugendalter die Lebensphase, in der das Hilfesuchverhalten besonders schlecht ausgeprägt ist. Suizidgedanken sind bei Jugendlichen nicht selten, 14 Prozent der 15-Jährigen kennen diese. Wenn Suizidgedanken geäußert werden, eine tiefe Hoffnungslosigkeit besteht, Jugendliche sich zurückziehen und/oder eine subjektiv ausweglos empfundene Situation besteht, gilt es aufmerksam zu sein. Und nachzufragen. Einfühlsam, respektvoll, wertschätzend, nicht wertend und unterstützend.

Es gibt das Vorurteil, man solle bloß niemanden auf Suizidgedanken ansprechen, weil man ihn oder sie dann erst auf den Gedanken bringe. Das ist Quatsch! Das Gegenteil ist der Fall! Ansprechen und nachfragen ist wichtig und kann Leben retten.

Hilfsangebote für Menschen mit Suizidgedanken und Angehörige

Um Menschen mit Suizidgedanken zu helfen, ist es wichtig, dass in der Bevölkerung besser bekannt ist, wer in welcher Situation der richtige Ansprechpartner ist. Um derzeit im Internet Hilfe zu finden, sollten Sie allerdings genau wissen, wonach Sie suchen.

In manchen Regionen gibt es bereits eine gute Vernetzung von lokal kooperierenden Institutionen und Hilfenetzwerken mit übersichtlichen Homepages und vielen Informationen zu Ansprechpartnern und Anlaufstellen, wie zum Beispiel das Frankfurter Netzwerk für Suizidprävention (www.frans-hilft.de) oder das Netzwerk für Suizidprävention in Dresden (www.suizidpraevention-dresden.de).

Ebenso können niedrigschwellige Hilfsangebote, wie die Telefonseelsorge (anonym, 24/7 erreichbar; kostenlos erreichbar unter 0800/111 0 111) oder die Nummer gegen Kummer (anonym, kostenlos, Mo-Sa 14.00 bis 20.00 Uhr; Telefon 116 111) sowie die Mailberatung U25 (www.u25-deutschland.de) durch geschulte Peers weiterhelfen.

155 Jugendliche im Jahr sind 155 zu viel

Aus Sicht einiger Suizidforscher sind 155 durch Suizid verstorbene Jugendliche in Deutschland im Alter von 15 bis unter 20 Jahren nicht viel, denn die Zahlen im Erwachsenalter sind noch sehr viel höher. Aus Sicht einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeutin und Mutter sind es 155 durch Suizid verstorbene Jugendliche pro Jahr zu viel.

Im Jugendalter ist Suizidalität die zweithäufigste Todesursache. In der Altersgruppe der 10- bis unter 15-Jährigen starben 25 Kinder durch Suizid im Jahr 2020 in Deutschland. Jetzt mal ehrlich: Das darf doch nicht wahr sein!

Vor allem müsste es auch nicht wahr sein. Es wäre möglich, die Suizidzahlen in Deutschland zu senken – durch eine nachhaltige Prävention. Suizidpräventionsforscher wissen bereits, was dafür getan werden kann. Allerdings scheitert es bis jetzt an einer nachhaltigen Finanzierung der Suizidprävention in Deutschland sowie einer bundesweiten Koordinierungsstelle.

Wollen Sie mithelfen, dass weniger Menschen durch Suizid sterben?

In Deutschland stirbt alle 56 Minuten ein Mensch durch Suizid. Ein Mensch in großer seelischer Not, der so nicht weiterleben wollte und in seiner aktuellen Situation keinen anderen Ausweg wusste. Es gibt bereits Hilfsangebote und Anlaufstellen. Doch es braucht eine nachhaltige Förderung sowie den Ausbau der Angebote der Suizidprävention und eine bundesweite Koordinierungsstelle mit übersichtlicher Homepage. Wer helfen möchte, dass das gelingt, kann die Petition „Suizidprävention geht uns alle an!“ unterstützen.

Quelle: Den ganzen Artikel lesen