„Eine Krankheit, die nicht mehr weggeht“
Eine Erkältung ist nervig, aber zum Glück nicht von Dauer. Wenn es gut läuft, sind Schnupfen und Husten nach ein paar Tagen verschwunden. Was dem einen bereits ein Gräuel ist, ist für Michaela W. das kleinste Übel. Entwickelt sie durch den scheinbar harmlosen Infekt Fieber, muss sie ins Krankenhaus. „Ich habe kein Immunsystem, das mich schützt“, sagt die 45-Jährige aus Hessen.
Bindehautentzündungen, Darmerkrankungen, Lungen- und Herzmuskelentzündung mit anschließender lebensgefährlicher Blutvergiftung sowie Nasennebenhöhlenentzündungen – all das hat sie schon mindestens einmal durchgemacht. Ein Blick auf die Aktenordner, die sich auf Michaelas Esstisch stapeln, zeigt: Ihre Krankengeschichte ist lang, die Krankheit kompliziert.
Und sie hat Spuren hinterlassen, Michaela ist auffällig dünn. Doch obwohl sie seit fast zwei Jahrzehnten dauerhaft krank ist, hat sie meist gute Laune. Eine starke Persönlichkeit.
„Die Ärzte haben mich in der Klinik schon gefragt, wie man so schwer krank und trotzdem so gut drauf sein kann“, erzählt sie. „Dabei nützt es nichts, sich zu beklagen.“ 13 Jahre lang rätseln Mediziner in ganz Deutschland über den Auslöser ihrer Erkrankung. Spezialisten gibt es in ihrer hessischen Kleinstadt nicht, deshalb fährt Michaela zu Medizinern in Marburg, Mainz, Freiburg – und legt dabei um die 70.000 Kilometer zurück. „Das war eine Ärzte-Odyssee“, erinnert sie sich.
13 Jahre Rätselraten
Das Leiden beginnt 2002 mit Kopfschmerzen. Da ist Michaela gerade 28 Jahre alt. Karriere, Heiraten, Kinder – das ist der Plan. Doch nach der Hochzeit häufen sich Nacken- und Gelenkschmerzen, morgens kommt sie kaum aus dem Bett. Untersuchungen bei der Rheumatologin bleiben ohne Befund. „Ich fühlte mich wie eine Hypochonderin“, berichtet Michaela. Schließlich schickt ihre Hausärztin sie in die 100 Kilometer entfernte Uniklinik nach Marburg.
Die Ärzte diagnostizieren eine Krankheit mit einem komplizierten Namen: eine autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmetyp (AIHA). Dabei produziert der Körper Antikörper, die die roten Blutzellen zerstören und die Sauerstoffversorgung des Körpers hemmen. Zu diesem Zeitpunkt ahnen weder Michaela noch die Ärzte, dass AIHA nur eine von vielen Diagnosen sein wird.
Es beginnt eine aufwendige Therapie mit Kortison und Medikamenten, die sonst Krebspatienten bei einer Chemotherapie erhalten. Durch das Kortison lagert Michaelas Körper Wasser ein, ihr Gewicht steigt von 70 auf 90 Kilo. Bewegungen bereiten ihr starke Schmerzen, sie kann sich kaum noch bücken. Weil sie zu wenige Antikörper besitzt, verabreichen ihr die Ärzte diese per Infusion.
„Ich war körperlich und geistig am Ende“
Doch nichts hilft. Stattdessen häufen sich Infektionen, ihr Geruchssinn und ihr Geschmacksinn lassen nach. „Ohne Nasenspray, Nasenspülungen, HNO-Arztbesuche und Tränenersatzflüssigkeit konnte ich gar nicht mehr leben“, sagt sie heute. Weil sie sich nicht in der Lage fühlt, zu arbeiten, geht Michaela in Frührente. Sie trägt es mit Fassung: „Das war schon belastend, aber es ging nicht anders.“
2011 setzen zusätzlich heftige Durchfälle ein. Zu diesem Zeitpunkt hat Michaela schon länger den Verdacht, dass etwas mit ihrem Immunsystem nicht stimmt. Doch ihr Arzt zerstreut die Bedenken und schiebt den niedrigen Antikörperwert, Durchfall und Gewichtsverlust auf Nebenwirkungen der Therapie. „In meiner Krankengeschichte war das die schwerste Zeit, ich war körperlich und geistig am Ende“, sagt sie.
2014 wiegt Michaela nur noch 48 Kilo, bei einer Größe von 1,70 Metern. Wegen der Durchfälle verlässt sie ihr Haus ausschließlich, wenn sich ihr Magen etwas beruhigt hat – und eine Toilette in der Nähe ist.
Auch Michaelas Kinderwunsch macht die Krankheit zunichte. Doch sie und ihr Mann behalten die Zuversicht und entscheiden sich für ein Pflegekind. Im März 2012 nehmen sie einen sechs Monate alten Jungen auf. Ihr Sohn, sagt Michaela, bereichert ihr Leben bis heute.
Des Rätsels Lösung
Dann folgt die nächste Diagnose: Zöliakie. Durch Entzündungen des Magen-Darm-Trakts sind Michaelas Darmzotten verschwunden, ihr Darm kann kaum noch Nährstoffe aus der Nahrung aufnehmen. Ab jetzt gilt: kein Gluten mehr. Paniertes Fleisch und Fisch, die meisten Fertiggerichte, Snickers, Twix, Bier, Likör, Glühwein, normale Nudeln und viele andere Köstlichkeiten – alles tabu. „Essen war für mich ab dem Zeitpunkt kein Genuss mehr“, erinnert sie sich.
Sie beginnt, ihr Brot selbst zu backen, ihr Sohn und ihr Mann müssen ihre Lebensmittel in einem extra Schrank deponieren. Aus Verzweiflung sucht Michaela im Internet nach Erklärungen für ihre Krankheit – und wird fündig.
Auf der Seite der Deutschen Selbsthilfe für Angeborene Immundefekte e.V. (dsai) stößt sie auf eine Liste mit Symptomen, die ihr Krankheitsbild spiegeln. Per Mail bittet sie zwei Zöliakie-Experten um Rat. Ein Gentest bestätigt: Michaela leidet nicht unter Zöliakie. Die verschwundenen Darmzotten erklärt sich ein Arzt in Mainz durch Entzündungen des Darms, die er auf einen möglichen Immundefekt zurückführt.
Der Experte rät Michaela, sich an die Immundefektambulanz in Freiburg zu wenden. Nach 13 Jahren diagnostizieren die Ärzte dort ein variables Immundefektsyndrom, auch Common Variable Immunedeficiency (CVID) genannt. Der Körper der Betroffenen produziert nicht genügend funktionierende Antikörper, sogenannte Immunglobuline. In Deutschland erkrankt eine von 20.000 Personen. Damit ist CVID äußerst selten.
Nur Hundert Ärzte kennen die Diagnose
Die ersten Beschwerden können bereits im Kindesalter auftreten. Bei anderen zeigen sie sich erst im Erwachsenenalter. „CVID hat sehr unterschiedliche und individuelle Ausprägungen“, erklärt der Experte. Michaela leidet unter einer besonders komplizierten Form. Anstatt sie vor Viren, Bakterien und anderen Keimen zu schützen, greift das Immunsystem Michaelas Körper an. Ihre Antikörper werden zerstört, Michaela ist deshalb auch heute noch oft krank.
Nur 2000 diagnostizierte Fälle gibt es in Deutschland. Bodo Grimbacher, Michaelas Arzt und Wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Chronische Immundefizienz in Freiburg, geht aber von 5000 Betroffenen aus. „Einige sind zwar erkrankt, doch die Symptome sind nicht so akut und werden deshalb vom Hausarzt nicht erkannt“, erklärt der Experte.
Die Ursache für den Defekt ist bis heute nicht geklärt. Spezialisten vermuten, dass die Erkrankung in 30 Prozent der Fälle angeboren ist. Im Durchschnitt können bis zur Diagnose in Deutschland vier bis fünf Jahre verstreichen, so Grimbacher. Der Bundesärztekammer zufolge gab es Ende 2018 mehr als 500.000 Ärzte in Deutschland. Grimbacher schätzt, dass nur Hundert von ihnen die Krankheit kennen. Zehn bis zwanzig seien Spezialisten auf dem Gebiet. „Das ist ein Armutszeugnis“, kommentiert er die Zahlen.
Leben mit Immundefekt
Mittlerweile lebt Michaela seit vier Jahren mit der Diagnose. Heute ist sie 45, Frührentnerin, schwerstbehindert und hat einen siebenjährigen Sohn. Ihre positive Einstellung ist ihr geblieben. Die fehlenden Antikörper spritzt sie sich zu Hause selbst. „Meine Lebensqualität ist seitdem deutlich gestiegen“, sagt sie. Einmal im Jahr fährt sie zur Kontrolle nach Freiburg. Die fehlenden Antikörper spritzt sie sich regelmäßig selbst.
Aussicht auf Heilung besteht trotzdem nicht. Den Kontakt mit Erregern muss Michaela, so gut es geht, vermeiden. Das heißt: keine Hände schütteln, kranke Menschen meiden, sich Auszeiten gönnen. Kommt ihr Sohn nach der Schule heim, wechselt er seine Kleidung. Geht er zum Spielen raus, zieht er wieder seine „Draußen-Klamotten“ an. Seinen Freunden erklärt er: „Meine Mama hat eine Krankheit, die geht nie wieder weg.“ So hart es klingt, so einfach ist es.
Dass man sich als Besucher die Hände wäscht und Schuhe vor der Tür stehen bleiben, verstehen trotzdem noch nicht alle. Und auch, dass man mit einer Erkältung oder einem Magen-Darm-Infekt lieber daheim bleibt, ist bei einigen im Bekanntenkreis noch nicht durchgedrungen.
Um das Bewusstsein zu steigern und Menschen zu sensibilisieren, engagiert sich Michaela bei der dsai, auf deren Homepage sie ihre Erkrankung entdeckt hat. Pro Jahr wenden sich um die Tausend Menschen mit Fragen an den Verein, Michaela steht ihnen als Regionalleiterin für Fragen zur Verfügung. Zusätzlich hält sie Vorträge vor Ärzten, damit anderen Betroffenen die jahrelange Suche nach der Diagnose erspart bleiben.
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