Was aus einem schlechten „Tatort“ entstehen kann

Der Autor dieses Textes ist Direktor des Instituts für Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover – und ein leidenschaftlicher Fan der Kult-­Krimireihe Tatort. Bei einem Dresdner Tatort mitten in der Corona-Pandemie war der Ärger über die wiederkehrende ungenaue Darstellung pharmakologisch-toxikologischer Inhalte so groß, dass er sich auf eine ungewöhnliche Mission begab. Von dieser berichtet er hier.

Schon häufiger sind ungenaue oder auch gefährliche Darstellungen pharmakologisch-toxikologischer Inhalte in etlichen Tatort-Folgen aufgefallen. Mal wurde Methylphenidat als Leistungssteigerer unkritisch glorifiziert, mal wurden Psychopharmaka global als abhängigkeitsinduzierend dargestellt, und mal wurde sehr genau gezeigt, wie man sein Opfer mit Kaliumcyanid töten kann. Doch bei einem Dresdner Tatort, mitten in der Corona-Pandemie, wurde allen Erns­tes „Cortison“ als Mittel der Wahl beim anaphylaktischen Schock dargestellt, und natürlich wirkte es auch sofort. Das war unerträglich aus der Sicht eines Pharmakologen, zumal der Autor bei der Leitlinie zur Behandlung des anaphylaktischen Schocks selbst mitarbeitet [1]. Aber der Zeitpunkt erschien ideal: In der Corona-Pandemie war der Präsenzunterricht an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) stark eingeschränkt. Der klassische akademische Austausch zwischen Student und Professor trocknete fast völlig aus. Könnte es vielleicht sein, dass die Studenten in dieser Situation an Doktorarbeiten interessiert sind, die man gut von zu Hause mit online verfügbaren Datensätzen durchführen kann?

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Am Institut für Pharmakologie an der Medizinischen Hochschule Hannover wurden schließlich zwei medizinische Doktorarbeiten ausgelobt, in denen die Doktoranden den Tatort pharmakologisch-toxikologisch aufarbeiten sollten: Marcel Borchert analysierte systematisch die pharmakologisch-toxikologischen Inhalte aller Tatort-Folgen der Jahre 2019 bis 2021 und Rachel Ellerbeck alle Vergiftungen im Tatort, zurückgehend bis ins Jahr 1974 [2,3]. Beide Doktoranden scheuten keine Mühen, alle Tatort-Folgen aufzuspüren, und analysierten akribisch jede Folge. Ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeiten war es, die dargestellten pharmakologisch-toxikologischen Inhalte so zu kodieren oder digitalisieren, dass man sie gut in Tabellen und Grafiken darstellen konnte (s. Tab.). Dann erfolgte der Reality Check der dargestellten Inhalte. Vornehmlich anhand von Lehrbüchern, aber auch der wissenschaftlichen Originalliteratur wurde analysiert, ob die Inhalte richtig gezeigt wurden oder nicht.

Es kann dabei nicht grundsätzlich gesagt werden, dass alles im Tatort schlecht oder falsch dargestellt wird. So zeigte ein Wiener Tatort sehr eindrücklich, dass es tödlich sein kann, wenn eine bakterielle Infektion nicht mit einem Penicillin behandelt wird, sondern einem Homöopathikum. Und auch manche Auswirkungen der missbräuchlichen Einnahme von Opioid-Analgetika wurden richtig dargestellt.

Beispiele für (fehlerhafte) Darstellung von Substanzen-Konsum 

Marcel Borchert greift in seiner Doktorarbeit aber z. B. eine Tatort-Episode auf, in der falsch behauptet wird, dass es für Benzodiazepine kein Antidot gebe. Doch Flumazenil ist ein Benzodiazepin-Rezeptor-Antagonist, der die zentral dämpfende Wirkung von Benzodiazepinen schnell aufhebt. Und was sich so manche Fernsehzuschauer vielleicht auch schon gefragt haben: Reicht wirklich ein Atemzug von einem in Chloroform getauchten Tuch aus, um sofort in Ohnmacht zu fallen? Borchert erklärt in seiner Doktorarbeit, dass bei Chloroform in der Regel ein Atemzug nicht ausreicht, um eine Wirkung zu erzielen. Er gibt zudem zu bedenken, dass in Filmen oft nur ein Tuch und keine eng anliegende Maske verwendet wird. Weiterhin kritisiert Borchert beispielsweise, dass ein Gerichtsmediziner einer Kommissarin Lorazepam verordnet, ihr dabei aber lediglich dazu rät, beim Autofahren vorsichtig zu sein. Damit spiele der Arzt die stark sedierende Wirkung herunter. Ebenfalls gefiel Borchert nicht, dass in einer Tatort-Folge ein Kommissar eine Tablette gegen Bluthochdruck nach einer schlechten Nacht in seinem Kaffee auflöste. In einer anderen Folge schluckt ein Kommissar gegen seinen Husten mehrere Tabletten eines pflanzlichen Präparates – offenbar ohne sich darum zu sorgen, wie viele Tabletten er davon wirklich einnehmen sollte [2].

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Rachel Ellerbeck hat sich in ihrer Doktorarbeit konkret auf die Vergiftungsfälle im Tatort konzentriert. Anhand von Beispielen verdeutlicht sie, wie die gezeigten Substanzen von aktuellen gesellschaftlichen und medizinischen Themen der jeweiligen Zeit bestimmt werden. So werden K.-o.-Tropfen gleichermaßen in alten wie auch neuen Tatort-Folgen thematisiert. Ellerbeck zeigt, dass Heroin und Asbest hingegen ausschließlich in den alten Episoden gezeigt wurden und Kaliumcyanid sowie Kohlenmonoxid z. B. nach 2000 seltener thematisiert wurden. Folglich hat gegenüber dem früher vorherrschenden Heroin-Konsum in der neueren Zeit vor allem der polyvalente Drogenkonsum und der Konsum von Stimulanzien (im Tatort) zugenommen. Ecstasy zum Beispiel wird nur in den neueren Folgen thematisiert, ebenso Vergiftungsfälle mit Cannabis [3].

Ist der Tatort denn nun besser geworden?

Als Pharmakologe ist man es nicht gewöhnt, mit seiner Forschung Interesse jenseits der Fachkreise hervorzurufen. Man freut sich in aller Regel über ein paar Hundert Downloads seines Artikels, ein paar Tweets und später ein paar Zitationen. Aber bei den Publikationen zur Auswertung der Darstellung im Tatort lief es anders. Zunächst wurde das lokale Medium „Die Harke“ aus Walsrode aufmerksam und widmete dem Thema eine ganze Seite. Das lag daran, dass Marcel Borchert in Walsrode gesellschaftlich aktiv und bekannt ist [4]. Das Ergebnis wurde in einem Sommer­kirchen-Gottesdienst dargestellt, es folgte ein Interview mit dem evangelischen Pressedienst über den Tatort und in der Folge erschien das Thema bundesweit in den Tageszeitungen bis hin zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die im Feuilleton berichtete „Pharmakologieprofessor rügt Medizin-Darstellung im Tatort“. Selbst wenn die konkreten pharmakologischen Fehler im Tatort für die meisten Zuschauer zu speziell sein mögen, so haben durch die Promotionen und die Berichterstattung in den Medien viele wahrgenommen, dass nicht alles im Tatort stimmt, selbst wenn es realistisch aussieht. Die beiden bisher erschienenen Tatort-Publikationen wurden in Naunyn-Schmiedebergs Archives of Pharmacology, der ältesten pharmakologischen Fachzeitschrift, als Open-access-Beiträge publiziert, sodass die Ergebnisse weltweit kostenlos für jeden Interessierten einzusehen sind [2, 3].

Die Tatort-Redaktionen kontaktierten den Autor nicht persönlich, aber es darf doch vermutet werden, dass die Arbeiten gelesen wurden. Denn in einem kürzlich ausgestrahlten Münchner Tatort wurde die Behandlung des anaphylaktischen Schocks mit Adrenalin lehrbuchmäßig korrekt dargestellt, und in einem aktuellen Stuttgarter Tatort ließ auch die Darstellung der Behandlung von Tumorschmerzen mit Fentanyl keine Wünsche offen. Daran sieht man, dass der Tatort subtil etwas zum Arzneimittelwissen in der Bevölkerung beitragen kann, ohne dass die Spannung leiden muss. Das kann man eindeutig als Erfolg werten.

Und wie geht es weiter?

Das Promotionsthema Tatort war so beliebt, dass ohne Weiteres zehn weitere Doktorarbeiten hätten ausgeschrieben werden können. Es läuft aktuell auch noch eine Promotion zum pharmakologisch-toxikologisch sehr ergiebigen Tatort aus Münster. Doch dann wird mit dem Tatort-Thema Schluss sein, weil es ansonsten doch zu Wiederholungen kommen kann. Glücklicherweise gibt es noch zahlreiche andere Unterhaltungsgenres, in denen Pharmakologie und Toxikologie eine Rolle spielen. Derzeit werden in medizinischen Doktorarbeiten pharmakologische Inhalte in Romanen, Opern, Krimis, historischen Fernsehserien sowie der in den USA sehr beliebten medizinischen Fernsehserie „Dr. House“ analysiert. Die Promotionen zeigen, dass auch Medizinstudenten an Pharmakologie und Toxikologie sehr interessiert sind. Forschung, Unterhaltung und Spaß schließen sich nicht aus, sondern können miteinander einhergehen. Und vielleicht hat der eine oder andere Apotheker nach der Lektüre dieses Artikels ja auch Lust bekommen, doch noch eine Promotion (Dr. rer. biol. hum.) anzufertigen – eine Themenauswahl finden Sie unter www.mhh.de/pharmakologie/lehre.

Veranstaltungstipp

Sie mögen Krimis? Oder sind an Toxikologie und Rechtsmedizin interessiert? Dann kennen Sie bestimmt den Kölner Kriminalbiologen Dr. Mark Benecke. In einem Festvortrag am 12. April 2024 auf der INERPHARM in Mannheim können Sie den Spezialisten für Forensik und Insektenkunde live erleben. Er beschreibt, wie sich Kriminalfälle anhand des Befalls einer Leiche mit Maden lösen lassen. Und er beschäftigt sich mit dem Leben nach dem Tod: 

Was passiert beispielsweise nach dem Tod eines Menschen mit den Bakterien, die in seinem Darm zu finden sind? Teils skurril, oft faszinierend und immer humorvoll berichtet der vom FBI ausgebildete Kriminalbiologe von seiner Arbeit. Weitere Informationen zur Interpharm am 12. und 13. April 2024 in Mannheim finden Sie unter www.interpharm.de.

Literatur

[1] Ring J, Beyer K, Birchner A et al. Kurzfassung der Leitlinie „Akut­therapie und Management der Anaphylaxie – Update 2021“ für Patienten und Angehörige. Allergo J 2021;30(7):24-31, doi: 10.1007/s15007-021-4907-5

[2] Borchert M, Seifert R. Systematic analysis of the pharmacological content of the Tatort (scene of crime) TV series from 2019 to 2021. Naunyn Schmiedebergs Arch Pharmacol 2023;396(9):1957-1975, doi: 10.1007/s00210-023-02427-3

[3] Ellerbeck R, Seifert R. Poisoning cases in the German crime series Tatort (crime scene) from 1974 to 2022. Naunyn Schmiedebergs Arch Pharmacol 2022.395(11):1419-1440, doi: 10.1007/s00210-022-02281-9

[4] www.dieharke.de/lokales/nienburg-lk/marcel-borchert-aus-walsrode-hat-medizinische-suenden-in-101-tatort-folgen-untersucht-76BYZHYT7FE7XPEFSPUOVQ4HVE.html


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