„Strategie statt Pandemie“: Ist das Graubündener Modell der Corona-Gamechanger?
Das Kanton Graubünden will die Skisaison nicht dem Coronavirus opfern. Die Lifte sind offen, die Menschen da: Und trotzdem infiziert sich kaum jemand. Das Geheimrezept soll ein Gurgeltest-Modell eines Heidelberger Wissenschaftlers sein, das auch den Schul- oder Kulturbetrieb nachhaltig verändern könnte.
„Mehr Freiheit, weniger Lockdown“: Das ist das Ziel von Martin Fischer, Professor für Public Health, Sozial- und Präventivmedizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Fischer hat ein Testkonzept entwickelt, dass den Schweizer Kanton Graubünden, bekannt für den Wintertourismus, zum Corona-Gamechanger könnte. Denn aus Graubünden sind derzeit Bilder zu sehen, von denen Skigebiete in Deutschland, Österreich und Italien nur träumen können: Volle Pisten und dabei niedrige Infektionszahlen.
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In Graubünden wird seit einem Monat mit Fischers entwickeltem Konzept, bestehend aus Gurgeltests, verstärkt getestet. Nur mit ausreichend Tests könne man die Pandemie in den Griff bekommen, solange der Impfstoff knapp ist, betonen Wissenschaftler immer wieder. Besonders weil viele Infizierte keine oder nur wenige Symptome aufzeigen, oft unentdeckt bleiben, aber trotzdem ansteckend sind.
Gurgeltest am Morgen, Ergebnis noch am selben Tag
Fischers Konzept funktioniert so: Im Testlauf im Kinzigtal bei Offenburg haben 150 Probanden über drei Wochen lang täglich einen Gurgeltest gemacht. Er ist unkomplizierter als ein Rachenabstrich, die Handhabung einfacher. Testen konnte sich jeder selbst, egal ob Zuhause oder im Büro.
Ein Bote hat die Proben eingesammelt und ins Labor gebracht. Das Rachenspülwasser wird dort mit Hilfe eines üblichen PCR-Tests auf Coronaviren untersucht. Über eine spezielle Software bekam die Testperson noch am selben Tag das Ergebnis übermittelt. Einmal pro Woche wurde jeder Proband in einer Arztpraxis mit einem Schnelltest getestet. Von 1600 Gurgeltests waren acht positiv. Ein Test kostet rund 50 Euro.
Foto: dpa Die Alternative zum Rachen- oder Nasenabstrich: Der Gurgeltest.
Etwa jeder tausendste Test ist positiv
Genau dieses Konzept hat Fischer nun in Graubünden installiert, um eine sichere Skisaison zu ermöglichen. Sein Modell kostet Geld: Die Tests an sich, die Kapazitäten in den Laboren, die App zur Übermittlung, der Transport ins Labor. Stattdessen aber eine komplette Saison auslassen und im Lockdown bleiben? Das wäre für die Graubündner noch viel teurer. Am 7. Januar stellte Fischer sein Testkonzept vor, innerhalb von zwei Wochen haben sich mehr als 500 Unternehmen mit rund 27.000 Mitarbeitern eingeschrieben.
In Graubünden werden alle Mitarbeiter der teilnehmenden Firmen – je nach Risikoprofil – getestet. Einheimische erhalten ebenfalls die Möglichkeit zum kostenlosen Test, ab März sollen einmal pro Woche alle Schüler getestet werden. Touristen können freiwillig mitmachen. „Nachdem das Projekt jetzt seit einem Monat läuft, sieht es so aus, als sei etwa jede tausendste Probe positiv“, sagt er der „Welt am Sonntag“. „Ich bin überzeugt: Tests können Infektionsketten verhindern. Wir könnten vor die Welle kommen.“ Auch beim größten europäischen Snowboardwettbewerb Laax-Open Ende Januar wurde viel getestet, zwei Infizierte wurden sofort in Quarantäne geschickt. Abgesehen davon infizierte sich niemand.
Bild: Angelika Warmuth/dpa In anderen europäischen Ländern sind die Skigebiete derzeit geschlossen. (Symbolbild)
Graubündener Modell zeigt Alternative, doch nur bedingt
Gegen solche Massentests gibt es verschiedene Einwände: So sind etwa die Resultate eines Antigentests nur zu rund 90 Prozent zuverlässig, was falsch negativ Getestete in eine trügerische Sicherheit versetzen kann. Weil von der Ansteckung bis zum Ausbruch der Krankheit einige Tage verstreichen, zeigt ein einzelner Test nur ein punktuelles, gegenfalls schon überholtes Ergebnis.
Bis vor kurzem haben diese Kritikpunkte das Bundesamt für Gesundheit lange davon abgehalten, diese Tests auch landesweit verstärkt durchzuführen. Ende Januar dann der Kurswechsel: In bestimmten Situationen, etwa zum Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen, soll der Bund die Kosten für kantonal angeordnete Massentests übernehmen.
Der Haken allerdings: Fischers Testkonzept ist nur bedingt übertragbar. „In einer Region wie Graubünden mit nur 200.000 Einwohnern kann man mit einem solchen Testkonzept einiges bewirken“, sagt er. „Auf ein 83-Millionen-Einwohner-Land wie Deutschland lässt sich das nicht einfach hochskalieren.“
Auch die Kapazitäten der diagnostischen Labore sind besonders in Deutschland begrenzt. Aber mit Hilfe des Modells könnten einzelne Bereiche, beispielsweise im Schul- oder Kulturbetrieb, wieder mehr Freiheiten bekommen, ist Fischer überzeugt. Die Graubündener Strategie setzt darauf, dass man Menschen dazu motivieren kann, das Virus gemeinsam zu bekämpfen, indem möglichst alle freiwillig dabei mithelfen, Infizierte zu finden, bevor sie andere anstecken. „Wenn wir nur auf Lockdown setzen, dann machen das die Menschen nicht mehr lange mit“, sagt Fischer.
Graubünden testet täglich 0,6 Prozent der Bevölkerung und ist im interkantonalen Vergleich damit Vorreiter, berichtete die „Neue Zürcher Zeitung“. Trotzdem reicht das Testvolumen bei weitem nicht, um andere Maßnahmen wie die Schließung von Gastronomie und Freizeitbetrieben überflüssig zu machen. Amerikanische Ökonomen schätzen, dass täglich etwa zehn Prozent der Bevölkerung getestet werden müssten, um das Infektionsgeschehen bei großzügigen Lockerungen ausreichend beherrschen zu können.
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