Spahn verhindert Sterbehilfe und ignoriert Gerichtsurteil
Der Staat müsse in Ausnahmefällen ein Gift für die Selbsttötung zur Verfügung stellen, urteilte das Bundesverwaltungsgericht 2017. Das Gesundheitsministerium um Jens Spahn sieht das anders. Entscheiden wird wohl Karlsruhe.
Es war ein Urteil, das sowohl Zustimmung als auch massive Kritik auslöste. Im März 2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, dass der Staat unheilbar kranken Patienten in schwersten Notlagen auf deren Wunsch ein Medikament zur Selbsttötung aushändigen müsse, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien.
Geklagt hatte der Ehemann einer Frau aus Braunschweig, die seit 2002 nach einem Unfall fast komplett querschnittsgelähmt war. Sie beantragte Ende 2004 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn vergeblich die Erlaubnis zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital. 2005 reiste das Ehepaar dann in die Schweiz, wo die Frau sich mit Hilfe der Sterbehilfeorganisation Dignitas selbst das Leben nahm.
22 Antragsteller starben in der Wartezeit
Der Staat als Suizidhelfer? Bislang haben unheilbar Kranke vom BfArM trotz des Leipziger Urteils keine todbringenden Betäubungsmittel erhalten. 93 von 123 Anträgen seien abgelehnt worden, berichtete der „Tagesspiegel“ am Dienstag. Es gab keinen positiven Bescheid. 22 Antragsteller starben in der Wartezeit. Neue Anträge gibt es nur noch wenige.
Die FDP will das nicht hinnehmen: Sterbenskranke brauchten Rechtssicherheit und Hilfe, sagte die FDP-Gesundheitspolitikerin Katrin Helling-Plahr dem „Tagesspiegel“. Am Mittwoch befasst sich der Gesundheitsausschuss des Bundestags in einer Anhörung mit einem Antrag der Liberalen, die das Leipziger Urteil durchsetzen wollen.
Unterstützung kommt von einem Gutachten
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat sich bislang dagegen gewehrt. Unter Berufung auf ein Gutachten des früheren Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio setzt er sich über das höchstrichterliche Urteil hinweg. Nach Einschätzung des Bonner Verfassungsrechtlers ist die vom Gericht eröffnete Mitwirkung des Staates an Selbsttötungen „verfassungsrechtlich nicht haltbar“.
Die Leipziger Richter hätten in unzulässiger Weise in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers eingegriffen und damit die Gewaltenteilung ausgehebelt. Aus dem Recht des Einzelnen auf Selbsttötung lasse sich zudem keine Pflicht des Staates ableiten, bei einem Suizid zu helfen, rüffelte di Fabio.
Selbstmord als „schnöder Verwaltungsakt“?
Spahn zog deshalb im vergangenen Sommer die Notbremse. In einem Brief forderte sein Staatssekretär Lutz Stroppe das BfArM auf, Patienten keine tödliche Dosis eines Betäubungsmittels zu verschaffen. Die Vergabe von Suizidmitteln sei nicht mit dem Zweck des Betäubungsmittelgesetzes vereinbar, die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Eine Selbsttötung könne keine Therapie sein.
Auch die große Mehrheit im Deutschen Ethikrat sah das so: Der Staat dürfe nicht verpflichtet werden, Menschen beim Suizid zu helfen, hieß es. Und der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, erklärte, das Bundesverwaltungsgericht degradiere die Selbsttötung zu „einem schnöden Verwaltungsakt“ und das BfArM zu einer „Ausgabestelle für Tötungsmittel“. Er verwies auf die Palliativmedizin.
Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über ein Thema zu berichten, das mit einem Suizid in Verbindung stehen könnte. Leider kann es passieren, dass depressiv veranlagte Menschen sich nach Berichten dieser Art in der Ansicht bestärkt sehen, dass das Leben wenig Sinn habe. Sollte es Ihnen so ergehen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111 oder 0800 3344533.
BGH will noch dieses Jahr entscheiden
Es bleibt ein Dilemma: Die Deutsche Stiftung Patientenschutz erinnerte am Dienstag daran, dass der Bundestag vor drei Jahren die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe unter Strafe gestellt hatte. „Weder ein Verwaltungsbeamter noch eine ärztliche Kommission können objektiv bewerten, wer ein Tötungsmittel erhalten darf und wer nicht“, sagte Vorstand Eugen Brysch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Er appellierte an das Bundesverfassungsgericht, den langen Streit um die Suizidbeihilfe schnell zu entscheiden.
Gegen das vom Bundestag 2015 verabschiedete Gesetz liegen nämlich inzwischen elf Verfassungsbeschwerden von Sterbehilfevereinen, Palliativmedizinern und tödlich Erkrankten vor, die das Gesetz für zu restriktiv halten. Aber auch ein aus Ärzten bestehendes Arbeitsbündnis „Kein assistierter Suizid in Deutschland!“ wandte sich an Karlsruhe.
Das Gericht hat signalisiert, dass ein Urteil noch in diesem Jahr fallen könnte. Nicht unwahrscheinlich ist eine mündliche Verhandlung. Dann könnten auch die Bundesregierung und das BfArM aus ihrer heiklen Zwickmühle befreit werden.
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