Rezeptpflicht für alle antimikrobiellen Wirkstoffe schießt übers Ziel hinaus

Antibiotika sind lebenswichtig – doch sie bereiten einige Probleme: Resistenzen nehmen zu und Lieferengpässe sind an der Tagesordnung. Bei einer Diskussionsveranstaltung des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller war man sich jedenfalls in einem Punkt einig: Eine generelle Rezeptpflicht für alle antimikrobiellen Wirkstoffe inklusive Antimykotika und Virostatika geht beim Kampf gegen Resistenzen zu weit. Sollten stattdessen Apotheken PoC-Tests auf Streptokokken anbieten? Oder der Versandhandel mit den Präparaten untersagt werden?  

Der in diesem Jahr von der EU-Kommission vorgelegte Richtlinienvorschlag für die Revision des europäischen Arzneimittelrechts sieht unter anderem vor, Arzneimittel mit einem antimikrobiellen Wirkstoff künftig der Verschreibungspflicht zu unterstellen. Darunter fallen sollen auch Antimykotika und Virostatika sowie Antiseptika und damit eine Reihe von in der Selbstmedikation etablierten Arzneimitteln, beispielsweise gegen Lippenherpes oder Nagelpilz. Niemand wird es leugnen: Antibiotikaresistenzen sind eine Gefahr und müssen bekämpft werden. Antibiotika sind daher besonders verantwortungsbewusst einzusetzen. Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) ist jedoch überzeugt: Die Pläne der Kommission schießen über das Ziel hinaus, wenn nun auch langjährig bewährte OTC-Produkte, zumal solche, die topisch anzuwenden sind, verschreibungspflichtig werden sollen. Zum Beispiel Canesten, Neo-Angin oder Octenisept würden dann nur nach einem Arztbesuch erhältlich sein. Der BAH mahnte bereits im Frühsommer, dass eine solche Rezeptpflicht nicht nur Mehrarbeit für Ärztinnen und Ärzte mit sich bringen, sondern auch die Kosten für die Krankenkassen in die Höhe treiben werde.

Auszug aus dem Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Unionskodexes für Humanarzneimittel und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/83/EG und der Richtlinie 2009/35/EG:

Artikel 51

Ein Arzneimittel unterliegt der ärztlichen Verschreibungspflicht, wenn:

(…)

e) es sich um einen antimikrobiellen Wirkstoff handelt (…)

Artikel 4

Begriffsbestimmungen

(1) Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

Nr. 22 „antimikrobielles Mittel“ bezeichnet jedes zur Therapie oder Abwehr von Infektionen oder Infektionskrankheiten eingesetzte Arzneimittel mit unmittelbarer Wirkung auf Mikroorganismen, einschließlich Antibiotika, Virostatika und Antimykotika; (…)

Damit steht der BAH nicht alleine, wie am Donnerstag auf einer von ihm ausgerichteten Veranstaltung anlässlich des Europäischen Antibiotikatags am 18. November deutlich wurde. Das Thema: „Revision der EU-Arzneimittelgesetzgebung – Mittel gegen Lippenherpes und Pilzerkrankungen künftig nur noch auf Rezept?“. 

Ein großer Markt mit Beratung in der Apotheke vor Ort

Zunächst gab Thomas Heil von IQVIA einen Überblick über den Markt antimikrobieller Arzneimittel in Deutschland und dazu, was Hausärzte und Apotheker:innen über diese Medikamente und ihren Beratungsbedarf denken. Es handelt sich vor allem um apothekenpflichtige Marken aus der Apotheke (Offizin und Versand). 58,2 Millionen Packungen gingen zwischen Oktober 2022 bis September 2023 über die HV-Tische. Dabei ist Tyrothricin der einzige antibiotische Wirkstoff mit OTC-Status. Daneben gibt es vor allem viele (weitere) topische Präparate, etwa gegen Pilzerkrankungen oder auch Herpes. Und mit der Beratung läuft es jedenfalls aus Apothekensicht auch gut: IQVIA befragte 100 Apotheker:innen, die zu über 90 Prozent erklärten, sich sicher in der Beratung zu diesen Präparaten zu fühlen. Sie bezweifeln jedoch, dass es diese Aufklärung auch bei einem Kauf über den Versandhandel gibt. Für Heil ist daher überlegenswert, die Produkte eher aus dem Versandhandel zu verbannen als sie verschreibungspflichtig zu machen. Bislang gibt es lediglich ein einziges OTC-Präparat, das nicht versendet werden darf: die Pille danach.

PoC-Tests in der Apotheke?

Esther Wohlfarth von der Antiinfectives Intelligence GmbH gab sodann einen Überblick über Resistenzentwicklungen gegen antimikrobielle Wirkstoffe. Dabei trennte sie systemische und topische Arzneimittel und kam letztlich zum Fazit: Eine Rezeptpflicht für alle diese Mittel ist wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen. Vor allem nicht für topisch anzuwendende Präparate. Allerdings müssten Patientinnen und Patienten sensibilisiert und ein regelmäßiges Monitoring durchgeführt werden. Tina Peiter von Reckitt Benckiser Deutschland berichtete überdies über die Möglichkeiten von Point-of-care (PoC) -Tests gegen Streptokokken. Mit ihrer Hilfe ließen sich viele Antibiotikaverordnungen vermeiden – sofern sich die Ärzte und Ärztinnen an die Testergebnisse hielten. Doch die Leitlinie der Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) zu Halsschmerzen, sehe solche Schnelltests nur für Patienten bis zum 15. Lebensjahr vor. Und es zeige sich: Kinder und Jugendliche bekommen bei Halsweh sehr viel seltener ein Antibiotikum verordnet als Erwachsene. Niederschwellig könnten solche Tests auch in Apotheken angeboten werden, findet Peiter. In der Corona-Pandemie haben diese schließlich bereits Erfahrungen mit PoC-Coronatests gesammelt. In Zukunft könnten sich solche Tests in der Apotheke auch mit der Telemedizin verbinden lassen: Fällt der Test positiv aus, könne gleich das passende Antibiotikum von der Ärztin oder dem Arzt verordnet werden. 

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Nach diesem Aufschlag diskutierten ABDA-Vize Matthias Arnold, Ute Leonhardt vom Ersatzkassenverband vdek und Marijke Ehlers aus der für Arzneimittel zuständigen Abteilung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) mit Elmar Kroth, Geschäftsführer Wissenschaft des BAH und BAH-Hauptgeschäftsführer Hubertus Cranz. Und sie waren sich weitgehend einig: Die EU-Kommission hat sich mit ihrem Vorschlag zur Rezeptpflicht wirklich sehr weit vorgewagt. Ehlers drückte sich allerdings noch vorsichtig aus. In dem umfangreichen Paket der EU-Kommission sei dies eine der kritisch zu hinterfragenden Regelungen, die derzeit noch geprüft werde. Vom Tisch sei sie noch nicht, so Ehlers, aber man könne zumindest darüber nachdenken, ob man möglicherweise nur systemisch Arzneimittel erfassen will – und keine für die topische Anwendung. Cranz erinnerte daran, dass Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, bereits deutlichere Worte gefunden hatte. Auch er hatte im Juni gesagt, aus seiner Sicht schieße die Regelung über das Ziel, Antibiotikaresistenzen zu bekämpfen, hinaus. 

Leider nicht nur verschrieben

Für Cranz ist es jedenfalls völlig unverständlich, was die Kommission sich bei dieser Regelung dachte. Anfänglich hätten viele gemeint, es handele sich um ein Versehen – man habe statt „antibiotischer“ „antimikrobieller“ Wirkstoff geschrieben. Arnold konnte das nur bestätigen: Sowohl bei der ABDA als auch beim europäischen Apothekerverband PGEU sei man zunächst davon ausgegangen, jemand habe sich verschrieben. Doch so ist es nicht. Auch wenn es im EU-Pharmapaket Vorschläge gibt, die die Apotheken noch mehr drücken: Für diesen speziellen Ansatz hat die ABDA auch kein Verständnis. Arnold zeigte sich überzeugt, dass in Apotheken gut und verantwortungsbewusst beraten wird. Resistenzen seien auch nicht erst seit zwei Jahren ein wichtiges Thema in Fortbildungen für Pharmazeutinnen und Pharmazeuten. Wie groß der Einfluss der Apotheke auf die Kundinnen und Kunden letztlich sei, hänge auch vom jeweiligen Kiez und der persönlichen Bindung ab, sagte der ABDA-Vize. Es gebe auch Kunden, denen nicht leicht zu vermitteln sei, dass sie ein verordnetes Antibiotikum einnehmen sollten – und zwar vollständig –  und keine Zuckerkügelchen.

PoC-Tests kein Allheilmittel

Selbst Kassenvertreterin Leonhardt räumte ein, dass die EU-Pläne in dieser Art medizinisch nicht sinnvoll seien. Eine 2-Gramm-Tube unter Rezeptpflicht zu stellen, helfe nicht, Resistenzen zu vermeiden. Sie stellt aber auch klar, dass eine Erstattung von PoC-Tests aus ihrer Sicht kein Allheilmittel ist, das die Kehrtwende einleiten kann. Zum einen seien diese nicht so aussagesicher – anders als Labortests, die schon jetzt auf Kassenkosten möglich seien. Zudem lasse sich aus verschiedenen Projekten zum Thema Antibiotikaresistenzen eher ableiten, dass es helfe, den Patienten etwas „in die Hand“ zu geben. Das könnten konkrete Verhaltenstipps sein, auch der, Geduld mit der Erkrankung zu haben. Kroth räumte ein: Die eine Maßnahme zur Lösung aller Probleme gebe es sicher nicht, aber sinnvoll sei es, an verschiedenen Fäden gleichzeitig zu ziehen. Auf das Ergebnis eines Labortests zu warten, sieht er kritisch –  in der Wartezeit werde oft schon mit Antibiotika „antherapiert“. Arnold erklärte zwar, dass die Apotheken sich sicher nicht wehren würden, die PoC-Tests durchzuführen. „Wenn uns jemand sagt, wir sollen das machen, werden wir das auch machen.“ Allerdings sei ein Schnelltest auf Streptokokken nicht so eindeutig wie zum Beispiel ein Coronatest. Es müsse daher in Leitlinien klargestellt werden, wie Apothekerinnen und Apotheker agieren sollen, wenn es zu einem positiven Testergebnis kommen. 

Und was ist mit den Engpässen?

Letztlich kam die Runde auch noch auf die Lieferengpässe bei Antibiotika zu sprechen. Leonhardt war bemüht, die Sache mit weniger Aufregung zu sehen. Sie verwies darauf, dass über 99 Prozent der Arzneimittel nicht von einem Engpass betroffen seien. Und es seien in der Regel gerade nicht die Arzneimittel mit Rabattvertrag, die nicht verfügbar seien. Leonhardt zeigte sich keinesfalls überzeugt, dass sich die Probleme automatisch lösen lassen, wenn man die Festbeträge für diese Präparate aufhebt und die Preise erhöht. Arnold wiederum betonte, dass sich fehlende Antibiotika nicht so leicht austauschen ließen wie möglicherweise andere Arzneimittel. Apotheken müssten daher die ganze Palette da haben. Gewisse Hoffnung hatte man angesichts der mit dem Engpassgesetz verankerten flexibleren Austauschregeln. Doch nachdem das Bundesgesundheitsministerium nunmehr im Sinne der Kassen klargestellt hat, dass Apotheken wieder die gesamte Rahmenvertragsabgaberangfolge zu beachten haben, ist für den ABDA-Vize klar: „Das ALBVVG können wir so, wie es ist, in den Mülleimer stecken. Es wird in den Apotheken gar nichts ändern“. Überdies betonte er an die Adresse der Kassen nochmals, dass Antibiotika schließlich keine Dauermedikation sind. Er sei in einer Glaubenskrise, sagte Arnold, wenn er sehe, dass man gerade hier die Sparzitrone noch weiter auspressen wolle. Im Sinne der Patienten sei das wohl kaum – eine nicht behandelte Infektion läuft schließlich weiter.


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