Keine Maßnahmen, keine vierte Welle: Warum die Fallzahlen in Schweden so niedrig sind

Während ganz Europa zu Beginn der Pandemie einen Lockdown verhängte, setzte Schweden auf Eigenverantwortung. Nach einem harten Winter und einem relativ ruhigen Sommer ließ das Land nun erneut nahezu alle Maßnahmen fallen – offenbar mit Erfolg. Eine vierte Welle bleibt bislang aus.

Konzerte, Fußballspiele, Partys: All das ist in Schweden möglich – mit so vielen Menschen wie gewünscht. Ende September hob das Land nahezu alle seiner ohnehin vergleichsweise lockeren Corona-Maßnahmen auf. Auch größere private Feiern wie Hochzeiten und Geburtstage sind damit wieder ohne Beschränkung der Gästezahl möglich. Die Empfehlung zum Arbeiten aus dem Homeoffice fällt ebenfalls weg.

Kein starker Infektionsanstieg in Schweden

Der befürchtete Infektionsanstieg nach diesem Freedom Day, wie er etwa in Großbritannien und auch in Dänemark zu beobachten war, blieb in Schweden bislang allerdings aus. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen bewegt sich seit Monaten auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau, wie Daten der Johns Hopkins University zeigen.

Neuinfektionen: In den vergangenen Wochen infizierten sich jeweils zwischen 4000 und 6000 Menschen neu mit dem Virus. Die aktuelle Inzidenz liegt mit 51,1 weiter auf einem moderaten Niveau. Am schwedischen Freedom Day lag der gemeldete Wert bei 41,4.

Todesfälle: Die Todesfälle haben in den nunmehr fast sechs Wochen seit dem Ende September beschlossenen Freedom Day im Wochendurchschnitt sogar leicht abgenommen. In der Kalenderwoche 39 (27. September bis 3. Oktober) meldete Schweden noch 47 Covid-Todesfälle, in der Kalenderwoche 44 (1. November bis 7. November) hingegen nur 32.

Intensivfälle: Und auch auf den Intensivstationen ist die Lage noch vergleichsweise entspannt. Dort werden laut dem schwedischen Intensivregister seit Wochen täglich weniger als zehn neue Corona-Patienten aufgenommen.

Wie ist es möglich, dass Schweden trotz vieler Freiheiten kaum einen Infektionsanstieg verzeichnet? FOCUS Online zeigt vier Faktoren auf, die dabei eine Rolle spielen könnten.

1. Die Impfquote (bei den Älteren)

Begründet hatten die schwedischen Behörden den Freedom Day mit der erfolgreich verlaufenden Impfkampagne. Bislang haben in Schweden mehr als 83 Prozent der Menschen im Alter von über 16 Jahren mindestens eine Corona-Impfdosis erhalten, über 80 Prozent auch schon ihre zweite.

„Die wichtigste Bremse sind Impfungen“, sagte Staatsepidemiologe Anders Tegnell laut „Deutschlandfunk“. Hier sei Schweden sehr gut vorangekommen. „Wir haben sehr viele der Allerschwächsten in der Gesellschaft durch unsere Impfanstrengungen erreicht. Und wir glauben, dass das momentan verhindert, dass die Infektionszahlen trotz vermehrter sozialer Kontakte wieder ansteigen.“

Zwar liegt die Impfquote auf die ganze Bevölkerung gerechnet damit nach Daten von „Our World in Data“ auch „nur“ bei 68,4 Prozent – also nur leicht über den 67,2 Prozent in Deutschland, wo sich die Infektionszahlen stattdessen auf einem neuen Rekordniveau bewegen. Der Unterschied könnte allerdings in der Verteilung der Impfungen auf die einzelnen Altersgruppen liegen – und zumindest den fehlenden Anstieg der Todeszahlen und Intensivfälle erklären.

In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut rund 85,6 Prozent der über 60-Jährigen vollständig gegen Corona geimpft. In Schweden liegt diese Quote etwas höher.

Nach Daten des Gesundheitsministeriums sind bereits

  • 90,5 Prozent der 60- bis 69-Jährigen
  • 93,2 Prozent der 70- bis 79-Jährigen
  • 93 Prozent der 80- bis 89-Jährigen und
  • 89 Prozent der über 90-Jährigen

vollständig gegen das Virus geimpft.

Die höhere Impfquote bei den Älteren könnte also zumindest erklären, warum Schweden seit dem Freedom Day keinen Anstieg der Intensiv- und Todesfälle verzeichnet. Warum sich allerdings auch beim Rest der Bevölkerung kaum mehr Infektionen bemerkbar machen, erklären diese Daten nicht.

2. Die Disziplin der Bevölkerung

Es gibt aber noch weitere Faktoren, die in Schweden bisher womöglich den Infektionsanstieg verhindern. Einer davon: die Vorsicht der Bevölkerung. Schon zu Beginn der Pandemie hatte die Regierung vor allem auf die Eigenverantwortung und Freiwilligkeit seiner Bürger gesetzt. Auch als in der zweiten und dritten Welle strengere Maßnahmen eingeführt wurden, beschränkten diese vor allem das öffentliche Leben. Ging es um persönliche Treffen oder die Arbeit im Homeoffice, sprach die Regierung lediglich Empfehlungen aus – an die sich viele Schweden freiwillig hielten.

Auch jetzt gibt es vor allem Empfehlungen für Ungeimpfte. Diese sollen den Gesundheitsbehörden zufolge etwa große Menschenmassen meiden und auch keinen engeren Körperkontakt mit Personen aus Risikogruppen sowie Älteren haben.

3. Vertrauen in die Gesundheitsbehörden

In der Bevölkerung herrscht zudem großes Vertrauen in die Entscheidungen der Gesundheitsbehörden, welches wohl dazu beiträgt, dass sich die Menschen an die Empfehlungen halten. Bestärkt wird dieses unter anderem durch die transparenten Entscheidungen der Regierung. Diese hatte etwa bereits im Mai einen Stufenplan vorgestellt, mit dem das Land aus der Pandemie kommen will.

Auch, dass Schwedens Gesundheitssystem wesentlich moderner arbeitet als etwa das deutsche, könnte das Vertrauen der Bevölkerung bestärken. Das zeigt etwa der Digital-Health-Index, bei dem Schweden 68 Punkte und damit von 17 Ländern den siebten Platz erzielte. Zum Vergleich: Deutschland ist mit 30 Punkten Vorletzter.

4. Die geringe Bevölkerungsdichte

Und Schweden hat noch einen weiteren Vorteil: Es ist größer als Deutschland – hat aber nur einen Bruchteil der Einwohner. Auf die rund 450.000 Quadratkilometer Schwedens kommen gerade einmal 10,4 Millionen Einwohner. In Deutschland sind es hingegen 83,1 Millionen Menschen, die sich die rund 360.000 Quadratkilometer teilen.

Wo sich Menschen eher aus dem Weg gehen können und seltener in engen Räumen zusammenkommen, kann sich auch das Coronavirus schlechter verbreiten.

Schwedens Sonderweg in der Pandemie war immer umstritten

Dass die Zahlen in Schweden aktuell kaum ansteigen, bedeutet aber nicht automatisch, dass der Sonderweg ohne strikte Maßnahmen der richtige war. Im Laufe der Pandemie haben sich dort insgesamt rund 1,2 Millionen Menschen mit dem Coronavirus angesteckt, rund 15.000 starben.

Zum Vergleich: In Deutschland starben durch Corona rund 97.000 Menschen – allerdings ist die Bevölkerung auch etwa acht mal so groß. Damit starben auf die Einwohner gerechnet in Schweden mehr Menschen als in Deutschland. Anteilig liegen die Todeszahlen damit auch höher als etwa in den USA.

Ob Schwedens Sonderweg damit als erfolgreich zu bewerten ist, bleibt vorerst offen. Und auch Schweden ist sich da selbst noch nicht so sicher. Die Regierung beauftragte deshalb eine Kommission, die die Pandemiebekämpfung des Landes bewerten soll.

Kommission bewertet Schwedens Pandemie-Management kritisch

Diese stellte Ende Oktober einen ersten Zwischenbericht vor. In diesem wirft sie den Behörden vor, zu langsam auf den Ausbruch der Pandemie reagiert zu haben. „Die in der Frühphase der Pandemie ergriffenen Maßnahmen konnten ihre Ausbreitung im Land nicht stoppen oder gar wesentlich begrenzen“, heißt es im Bericht. Ob Freiwilligkeit und Eigenverantwortung, auf die die schwedische Regierung gesetzt hatte, tatsächlich der bessere Weg waren, will die Kommission erst in ihrem Abschlussbericht im Februar 2022 bewerten. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die Infektionsausbreitung im März 2020 deutlich dramatischer war, als aus den von den Behörden in Echtzeit vorgelegten Daten hervorgeht, heißt es im Zwischenbericht.

Die Kommission kritisierte zudem das anfängliche Zögern bei der Infektionsverfolgung. „Die Kommission ist der Auffassung, dass (…) die späte Infektionsverfolgung die Bekämpfung der Pandemie erschwert hat“, heißt es. Auch mit dem Testen habe man viel zu spät begonnen. Man könne es nur als eine Havarie bezeichnen, dass eine Diskussion um Verantwortung und Finanzierung dazu beigetragen habe, dass bis zum Ende der ersten Welle kein groß angelegtes Testen stattfand.

Als weiteres Hindernis sieht die Kommission, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für strengere Maßnahmen nicht früher geschaffen wurden. „Schon während der ersten Welle hätte klar sein müssen, dass die Instrumente des Gesetzes unzureichend waren.“

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