Ein Biopsychologe über das Vergessen: "Wenn wir Erinnerungen wachrufen, sind sie in Gefahr"

Herr Güntürkün, haben Sie heute eigentlich schon etwas vergessen?

Ja natürlich, leider sehr viel. Ich könnte Ihnen zum Beispiel nicht mehr spontan sagen, woran ich heute so zwischen neun und zehn Uhr gearbeitet habe, ohne es anhand vieler anderer Details zu rekonstruieren. Ich erinnere mich auch, dass meine Frau heute morgen eine Jeans trug, und wenn ich Ihnen das so erzähle, fällt mir ein, dass es gestern ein Rock war. Aber – das darf ich meiner Frau niemals sagen – ich habe vergessen, wie der Rock aussah. Das mag unhöflich erscheinen, aber ehrlich gesagt müssen wir froh sein, dass wir vergessen können.

Warum sollten wir für unser miserables Gedächtnis auch noch dankbar sein?

Weil die Anzahl von Informationen, die jede Sekunde auf uns einströmen, jenseits von allem ist, was unser Gehirn verarbeiten kann. Das meiste von dem, was wir sehen, hören, fühlen, rauscht durch unser Gehirn, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es wird sofort weggefiltert. Wir können diese Tatsache Vergessen nennen, aber eigentlich wurden die Informationen nie tief weiterverarbeitet. Das, was wir Erinnerung nennen, ist das Ergebnis vieler Filterprozesse und geht dann in die üblichen Abnutzungserscheinungen hinein.

Die meisten Menschen ärgert es wahnsinnig, wenn sie eine Melodie im Kopf haben und sich nicht an den Songtitel erinnern können, wenn sie einen Bekannten treffen, aber ihnen der Name einfach nicht mehr einfällt. Würden Sie denen sagen: „Entspannt euch, alles kein Problem?“

Nein, Vergessen kann natürlich eine unglaublich lästige Sache sein. Früher konnte ich zum Beispiel Vorträge hören und noch nach zehn Jahren die Inhalte relativ gut nachvollziehen. Heute muss ich ein Notizheft bei mir haben und mitschreiben, sonst ist das neue Wissen schnell verschwunden. Das ärgert mich. Es ist, wie eine Brille zu tragen, so unpraktisch. Und dann kommt noch etwas ganz anderes hinzu: Wer hätte nicht Angst davor, dement zu werden? Es ist eine der Urängste des modernen Menschen. Sich an nichts erinnern zu können ist ein schrecklicher Zustand.

Wenn wir über das Gedächtnis reden, benutzen wir häufig Metaphern wie Festplatte, Archiv, Bibliothek. Dahinter steckt die Vorstellung, das Gedächtnis sei ein Ort, an dem man etwas für immer ablegen kann, und Erinnern bedeutet, den Weg zu diesem Ort zu finden. Sind diese Bilder überholt?

Sie sind insofern verfehlt, als dass sie Unveränderbarkeit und Stabilität suggerieren. Das ist falsch. Das Gehirn ist kein Computer, sondern ein lebendiges Organ und ständigen Veränderungsprozessen unterworfen. Jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung wachrufen, ist sie in Gefahr. Denn in dem Moment, in dem wir sie aktivieren, ist sie flexibel. Plastisch. Formbar. Und wir sind bereit, sie zu verändern. De facto sogar zu löschen. Das Vergessen ist insofern ein fast mächtigerer Prozess als das Lernen, und deshalb finde ich ihn auch so spannend. Er macht uns Angst, wenn er krankhaft wird, gleichzeitig wird seine Nützlichkeit häufig überhaupt nicht beachtet.

Wie dicht gepackt sind Nervenzellen? Wo ist wann was los? Forschung braucht Tiermodelle wie diese Präparate von Taubengehirnen. 

Wenn im Gehirn alles ständig in Bewegung ist, wie fassen wir dann überhaupt einen klaren Gedanken?

Unter anderem, indem wir bestimmte Gedächtnisinhalte löschen. Das ist wichtig, um sogenannte prinzipielle beziehungsweise kategorische Erinnerungen aufzubauen. Wenn Sie beispielsweise an Ihre Mutter denken, an den ersten Freund oder die erste Freundin oder auch an Ihr Wohnzimmer, dann bilden Sie prinzipielle Erinnerungen, Kategorien. Sie speichern nicht die winzigen täglichen Variationen im Gesicht Ihrer Mutter ab, auch nicht das Licht, das jeden Tag anders in Ihr Wohnzimmer fällt, oder den Sessel, der nie exakt am gleichen Platz steht – all das wird nicht in Ihrer Erinnerung bleiben, sondern die prinzipielle Erinnerung wird permanent upgedatet. Ohne Kategorien zu bilden, würden wir in einer Flut von Déjà-vus ertrinken. Wir würden ständig am Tag unser Sofa im Wohnzimmer sehen und würden jedes Mal sagen, ah, dieses Sofa habe ich schon einmal gesehen.

Können wir umgekehrt unseren Erinnerungen auch Details hinzufügen, die nie wirklich passiert sind?

Im Alltag geschieht das häufig. Denken Sie nur an die Art, wie alte Menschen über ihre Kindheit sprechen. Die Anzahl großartiger Kindheiten ist, wenn man ihnen glauben schenkt, inflationär. Die waren in ihrer Erinnerung immer klüger und fleißiger als die heute Jungen und haben schon immer alles gewusst. Irgendwie kann da etwas nicht stimmen. Wir reichern Erinnerungen mit unserem heutigen Wissen an. Das geschieht ohne bösen Willen.

Wir sind also Meister der Selbsttäuschung?

Wir besitzen nur interpretierte Erinnerungen an unser Leben und sind bereit, uns manche Dinge schönzureden. Erinnern Sie sich zum Beispiel noch, was Sie Mitte der 80er Jahre über die DDR und die Mauer dachten?

Auf Styroporköpfen trocknen Elektroden, die für EEG-Messungen genutzt werden

Ich dachte, die deutsche Teilung ist Normalität und wird immer bestehen.

So ging es der großen Mehrheit der Deutschen. Sie haben die Teilung und die Mauer als etwas wahrgenommen, das in Ihrem Leben keine Veränderungen erfahren wird. Die meisten dachten: Ich werde sterben, aber die Mauer wird noch da sein. Dieses Wissen um die Mauer ist in verschiedenen neuronalen Schaltkreisen codiert, der Stacheldraht, die Wachtürme, die Gefühle, die wir mit alldem verbinden. Wenn Sie sich heute an die Mauer erinnern, sind diese alten neuronalen Verbindungen wieder flexibel. Zeitgleich ist ein anderes Netzwerk von Neuronen aktiv, dasjenige, in dem Sie Ihr neues Wissen abgespeichert haben – die Mauer ist weg. Beide Schaltkreise sind gleichzeitig aktiv. Dann kann sich eine synaptische Verbindung zwischen ihnen etablieren. Sie denken, dass die Mauer doch verschwunden ist und Sie sich an ihr Verschwinden erinnern. Die Kombination aus jetzigem und altem Wissen ist zeitgleich aktiv und bildet eine neue Gedächtnisspur, die die alte Spur ergänzt beziehungsweise ersetzt. Somit wird die alte Erinnerung wieder abgespeichert, und zwar so, dass sie ein bisschen um diese neue erweitert wird. Und in fünf Jahren gehören Sie zu den Menschen in Deutschland, die sagen: „Ich hab’s schon damals gewusst: Die Mauer hält nicht ewig. Damals schon hab ich’s meinem Freund Cem gesagt, und der hat mich für verrückt erklärt.“

Wenn unser Gehirn so anfällig für Einflüsterungen und Manipulationen ist, kann man da überhaupt falsche von richtigen Erinnerungen unterscheiden?

Ja, im Prinzip schon. Wir müssen aber ein Bewusstsein dafür schaffen, wie fragil Erinnerungen sind. Wenn wir diese Mechanismen des Erinnerns und Vergessens besser verstehen, sind wir auch weniger gefährdet. Wir wissen, dass man Menschen falsche Erinnerungen einreden kann, etwa an Straftaten. Diese Taten sind dann im Gehirn, sie werden repräsentiert durch Neuronen. Das Katastrophale an solchen „false memories“ ist, dass unschuldige Menschen ins Gefängnis kommen können, weil Zeugen Dinge berichten, die nie passiert sind. Ohne dass die Zeugen willentlich lügen.

Andererseits wird Opfern schnell unterstellt, dass sie sich eine Tat nur einbilden und fantasieren. Gibt es da einen Ausweg?

Die Polizeiarbeit ist seit den großen Debatten um „false memories“ besser geworden. Man kann das Problem nicht aus der Welt schaffen, aber es verkleinern.


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