Corona wie Grippe behandeln: So radikal will Musterstaat Singapur seine Pandemie-Strategie ändern

Singapur macht eine 180-Grad-Wende im Kampf gegen die Pandemie: Der Umgang mit Corona soll künftig dem mit einer gewöhnlichen Grippe gleichen. Kann Singapurs gewagte Pandemie-Strategie zum Vorbild für Deutschland werden?

Corona wie eine Grippe handhaben und normal weiterleben. Solche Standpunkte stammten bisher eher aus der Szene der Corona-Leugner und nicht vom Pandemie-Musterschüler Singapur.  

Denn bisher glänzte der Inselstaat mit einem strengen Corona-Kurs: Auch bei tropischen Temperaturen trugen die Einheimischen Masken, beinahe jeder Besuch in der Öffentlichkeit wurde mit dem Handy dokumentiert. Dazu kamen strenge Einreisebeschränkungen, Quarantäne und rigorose Teststrategien. 

Von No-Covid zum Grippe-Plan: Singapur wechselt den Kurs

Das alles soll sich nun jedoch ändern. Die Minister der Corona-Taskforce in Singapur haben eine neue, deutlich gewagtere Pandemie-Strategie angekündigt: Sie wollen Covid-19 in Zukunft wie eine Grippe behandeln. 

„Die schlechte Nachricht ist, dass Covid-19 vielleicht nie verschwindet. Die gute Nachricht ist, dass es möglich ist, damit normal in unserer Gesellschaft zu leben“, schreiben Singapurs Handelsminister Gan Kim Yong, Finanzminister Lawrence Wong und Gesundheitsminister Ong Ye Kung in der Zeitung „Straits Times“. 

Die Minister wollen das Coronavirus so wie andere Grippeviren handhaben. Schließlich würden viele Menschen an einer Grippe erkranken, ohne deshalb ins Krankenhaus zu müssen. Die „überwältigende Mehrheit“ erhole sich sogar mit wenigen oder gar keinen Medikamenten. 

„Eine Minderheit, vor allem ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen, können sehr krank werden, und einige sterben“, merken die Minister in ihrem Schreiben zwar an. Das Risiko eines solchen Verlaufs sei für die Gesamtbevölkerung allerdings sehr gering. 

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Zentraler Baustein: Impfen

Ein zentraler Baustein für Singapurs neue Pandemie-Strategie ist die dortige Impfkampagne. Bereits 60 Prozent der Bevölkerung haben ihre erste Impfdosis erhalten, spätestens bis Anfang August sollen zwei Drittel der Menschen in Singapur vollständig geimpft sein.  

Auch, wenn eine Impfung keinen 100-prozentigen Schutz vor einer Corona-Erkrankung bietet, werden schwere Covid-Verläufe unwahrscheinlicher. Dadurch verschiebt sich der Fokus auf die Behandlung des Virus und liegt nicht länger auf dessen Eindämmung. 

Doch Singapurs neuer Fahrplan besteht aus mehr Aspekten als nur dem Impfen. Umfassende Tests sollen bei Grenzkontrollen und Massenveranstaltungen auch weiterhin zur Tagesordnung gehören. Im Alltag wollen die Minister der Taskforce den Corona-Check allerdings auf Atemtests beschränken.  

Yong und seine Kollegen setzen außerdem auf die Fortschritte bei den Corona-Behandlungsmethoden sowie die Eigenverantwortung der Bevölkerung im Umgang mit Corona. Ziel ist eine neue Normalität mit milden Verläufen, einzelnen Isolationen und einem angepassten Virus-Management bei Großveranstaltungen und Reisen.  

Entscheidung „mit Covid zu leben“

„Im Laufe der Pandemie ist vielen Regierungen klar geworden, dass sich Sars-CoV-2 nicht ausrotten lässt und strenge Quarantänemaßnahmen sich nur für einen begrenzten Zeitraum der Bevölkerung vermitteln lassen“, sagte Martin Linster, Direktor des Sicherheitslabors am Institut für Neuartige Krankheitserreger an der Duke National University in Singapur, der „Welt“.  

Die Entscheidung „mit Covid zu leben“ sei aufgrund der niedrigen Infektionszahlen und Krankenhauseinweisungen erfolgt.

Großbritannien: Ab 19. Juli sollen fast alle Corona-Beschränkungen aufgehoben werden

Letztlich ist auch in Europa die Idee eines freizügigeren Corona-Kurses angekommen. So lockerte der britische Premierminister Boris Johnson zuletzt die geltenden Pandemie-Maßnahmen und nahm damit steigende Infektionszahlen in Kauf. Die Begründung: Nicht die Ansteckungsrate, sondern die Zahl der Krankenhauseinweisungen sei entscheidend, erklärte der Premierminister in einer Pressekonferenz am vergangenen Montag.

Am 19. Juli sollen dann schließlich wie geplant fast alle verpflichtenden Corona-Maßnahmen aufgehoben werden. Das bestätigte der britische Gesundheitsminister Sajid Javid an diesem Montag. Von kommender Woche an fallen damit voraussichtlich Abstandsregeln, Maskenpflicht und die verpflichtende Registrierung etwa beim Restaurantbesuch weg. Auch Nachtclubs und Diskotheken dürfen dann wieder Besucher empfangen. Zahlenmäßige Beschränkungen für Feiern der Veranstaltungen soll es nicht mehr geben.

Und das obwohl die Zahl der Neuinfektionen seit Wochen wieder dramatisch steigt. Auch zahlreiche Ärzte, Gewerkschaften und die Opposition kritisieren den Vorstoß scharf. „Es besteht eine klare Diskrepanz zwischen den Maßnahmen, die die Regierung plant, und den Daten und Ansichten von Wissenschaftlern und Ärzten“, sagte der Chef der Ärz­te­vereinigung BMA, Chaand Nagpaul.

„Ein Beispiel an England sollte sich Deutschland in der Pandemie nicht nehmen“

Auch hierzulande gibt es Lockerungspläne. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sprach sich vor wenigen Tagen dafür aus, alle Einschränkungen aufzuheben, sobald jeder in Deutschland ein Impfangebot bekommen hat. Gleichzeitig warnen die ersten Epidemiologen bereits vor den Folgen für die noch nicht geimpften Kinder. 

Da es wissenschaftlich noch keine Klarheit über die Langzeitfolgen von Corona-Infektionen bei der jüngeren Altersgruppe gibt, sollten mit Bedacht gelockert werden, erklärte Epidemiologe Rafael Mikolajczyk von der Universität Halle dem „Handelsblatt“. Für ihn steht fest: „Ein Beispiel an England sollte sich Deutschland in der Pandemie nicht nehmen.“  

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