Antikörper: Waren mehr als zwei Drittel der Inder bereits mit Corona infiziert?

In Indien breitete sich das Coronavirus im April, Mai und Juni aus wie ein Lauffeuer. Die Zahl der Neuinfektionen stieg innerhalb kürzester Zeit explosionsartig an. Krankenhäuser waren überlastet. Bilder von Tausenden Toten, die im Ganges trieben, gingen um die Welt. An manchen Tagen wurden mehr als 400.000 Neuinfektionen gemeldet, Millionen insgesamt. Und die tatsächliche Infektionszahl schätzen Experten noch weit höher ein. Was lange nur vermutet wurde, wird nun gestützt von einer Studie, die am Dienstag veröffentlicht wurde. Sie zeigt: Viel mehr Inder als bisher bekannt haben bereits Antikörper gegen das Virus gebildet.

Indien ist groß und voll. Mehr als 1,36 Milliarden Menschen leben in dem Land. Obwohl dort bereits mehr als sechsmal so viele Menschen mindestens ein Corona-Impfung erhalten haben als in Deutschland, macht das in Summe gerade einmal knapp 24 Prozent. 6 Prozent der Bevölkerung sind vollständig geimpft. Antikörper entwickelt aber auch, wer sich mit dem Virus infiziert. Und das sind in Indien wohl weitaus mehr als Geimpfte. Bei einer serologischen Studie, welche die staatliche biomedizinische Forschungseinrichtung Indian Council of Medicial Research (ICMR) im Juni und Juli durchführte, konnten bei mehr als zwei Drittel (67,7 Prozent) Corona-Antikörper nachgewiesen werden.

Indien


In Indien kehrt das normale Leben zurück. Doch wer trägt die Schuld an der Katastrophe?

Geringe Impfrate, viele Antikörper

Mehr als 36.000 Inder ab 6 Jahren aus dem ganzen Land nahmen an der Studie teil, die Mehrheit (62 Prozent) hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Impfung erhalten. Bei der letzten Erhebung Anfang des Jahres wurden nur bei knapp einem Viertel der Teilnehmenden Antikörper nachgewiesen – ein sprunghafter Anstieg. Und laut Experten ein Beleg, dass sich wohl viel mehr Menschen während der zweiten Coronawelle, als vor allem die Delta-Variante grassierte, infizierten als es die Zahlen bisher hergaben.

Am meisten betroffen waren laut Studienergebnis Menschen ab 45 Jahren. Diese Gruppe wies mit etwa 77 Prozent das höchste Seroprävalenzniveau auf, in dieser Gruppe wurden also am häufigsten Antikörper gefunden. Aber auch viele Kinder zwischen sechs und neun Jahren scheinen sich mit dem Virus infiziert zu haben. Die Seroprävalenz lag in dieser Gruppe bei 57 Prozent. Bei 61 Prozent der Untersuchten zwischen 10 und 18 Jahren wurden Antikörper nachgewiesen. Menschen unter 18 Jahren sind in Indien noch nicht impfberechtigt. 

Indien ringt um Luft: So schwer setzt die aktuelle Coronawelle dem Land zu

"Die zweite Welle hat das System überwältigt. Wir müssten mindestens neun bis zehn Millionen Menschen pro Tag impfen und das Virus aggressiv zurückdrängen", zitiert die "Deutsche Welle" den Epidemiologen Giridhar Babu. "Diese Welle war nicht heftig, weil das Virus tödlicher wurde, sondern weil es infektiöser und leichter zu übertragen war." Zuletzt sanken die Infektionszahlen in Indien, Maßnahmen wurden gelockert. Doch die Sorge von Experten vor einer dritten Welle ist groß. Zumal die aktuelle Studie auch gezeigt habe, "dass etwa 400 Millionen Menschen immer noch gefährdet sind, wenn eine dritte Welle eintritt",  so ICMR-Generaldirektor Balram Bhargava laut "CNN".

„Millionen Tote, nicht hunderttausende“

Seit Beginn der Pandemie hat Indien laut Daten der John Hopkins University 31,2 Millionen Infektionsfälle gemeldet, eine Infektionsrate von weniger als drei Prozent. Diese Zahlen erklären die Daten aus der Studie mitnichten. Es deutet auf etwas hin, was viele Experten schon lange bemängeln, eine Lücke im Corona-Reporting. Dass so viele Fälle unentdeckt blieben und bleiben, wird vor allem dem überforderten Gesundheitssystem, der schlechten Infrastruktur und der damit zusammenhängenden niedrigen Testquote zugeschrieben. Aber die Lücke betrifft nicht nur Infektionsfälle, sondern auch die Todeszahlen.

Laut offiziellen Angaben beläuft sich die Zahl der Corona-Toten in Indien auf etwa 418.000, mehr meldeten nur die USA und Brasilien. Doch laut einer US-Studie des Thinktank Center for Global Development muss diese Zahl um ein paar Millionen nach oben korrigiert werden. Die Experten schätzen, dass sich die Übersterblichkeit seit Pandemiebeginn auf bis zu 4,7 Millionen belaufen könnte. Für ihre Analyse hatten die Forschenden Todeszahlen aus sieben vielbevölkerten Bundesstaaten hochgerechnet, bezogen regelmäßige Haushaltsbefragungen zu Todesfällen ein und werteten weitere Untersuchungen aus. Obschon die Forscher einräumten, dass sie daraus keine Rückschlüsse in Bezug auf die Todesursache ziehen könnten, erklärten sie: "Die wahre Zahl der Toten liegt bei mehreren Millionen, nicht bei hunderttausenden". Damit sei die Corona-Pandemie in Indien "die schlimmste menschliche Tragödie seit der Unabhängigkeit".

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