Intuitiv essen: Wie wir lernen, wieder auf unseren Hunger zu achten

Intuitiv essenWie wir lernen, wieder zu essen, was wir wollen

Es könnte alles so einfach sein. Statt jahrelang nach der besten Diät zu suchen, nach immer wieder neuen Essensregeln, die mehr Gesundheit und weniger Kilos auf der Hüfte versprechen, könnten wir einfach auf unsere Körpersignale hören. Aber: „Denen zuzuhören haben wir größtenteils verlernt“, sagt Ernährungsberaterin Maike Ehrlichmann im Podcast.

Vor 15 Jahren hat auch sie wieder damit begonnen, mehr auf ihren Hunger und Sättigungsgefühle zu achten, denn darum geht’s beim intuitiven Essen. „Es ist das, was die Menschheit seit Tausenden Jahren gemacht hat, bis wir es dann abgeschafft haben.“

Umso wichtiger sei es, sich bewusst zu machen, warum wir die Zeichen unseres Körpers nicht mehr verstehen: Laut Ehrlichmann gibt es eine ganze Reihe von sogenannten Signalstörern. Dazu gehört „jede Form von Display“, also Smartphones, Tablets oder TV-Bildschirme, die uns beim Essen ablenken.

Maike Ehrlichmann: „Diese nährstoffspezifischen Herangehensweisen wie im Chemiebaukasten zu basteln, das läuft nicht.“

Aber auch Stress kann unser Appetitsystem durcheinanderwirbeln. „Unter Stress fordert das Gehirn oft Energie an, obwohl es gar keine bräuchte. Stress führt dazu, dass ein Hunger entsteht, der tatsächlich auch gefühlt wird“, erklärt Ehrlichmann im Podcast.

Wie lernt man also, die eigenen Körpersignale wieder richtig zu deuten? Wie lässt sich das intuitive Essen in den Alltag integrieren? Und warum nimmt man davon nicht zu? Auf diese und weitere Fragen antwortet Maike Ehrlichmann im Ideen-Podcast „Smarter leben“.

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SPIEGEL-Wissen-Coaching: „Intuitiv essen“

Gemeinsam mit dem Team von SPIEGEL WISSEN hat Ehrlichmann auch ein Coaching entwickelt, mit dem Sie das intuitive Essen zu üben.

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Der ganze Podcast zum Lesen

00:00:02] Maike Ehrlichmann: Ich würde sagen intuitives Essen ist das, was die Menschheit seit Jahrtausenden gemacht hat, bis wir es dann abgeschafft haben.

[00:00:11] Intro: Ideen für ein besseres Leben haben wir alle. Aber wie setzen wir sie im Alltag um? In diesem Podcast treffen wir jede Woche Menschen, die uns verraten, wie es klappen kann. Willkommen zu smarter Leben. Ich bin Lenne Kaffka und heute spreche ich mit Mike.

[00:00:28] Maike Ehrlichmann: Hallo, ich bin Maike Ehrlichmann. Ich bin Ernährungswissenschaftlerin. Habe das studiert vor langer Zeit und arbeite inzwischen als Ernährungsberaterin, schon seit vielen Jahren und sehe immer mehr: das, was den Menschen wirklich hilft zu einer gesunden Ernährung, ist das intuitive Essen.

[00:00:44] Anmoderation: Bei mir ist es eigentlich jeden Tag dasselbe. Das Frühstück ist gerade mal zwei Stunden her, und dann laufe ich schon wieder in die Küche oder gehe noch mal kurz beim Bäcker rein, um irgendeinen Snack zu suchen. Dabei bin ich meistens gar nicht sicher, ob ich wirklich Hunger habe. Trotzdem esse ich dann etwas und fühle mich danach nicht unbedingt besser. Mike ist sich sicher: wir müssen lernen, unsere Körpersignale beim Essen wieder richtig zu deuten. Dann erfahren wir auch, was uns wirklich gut tut und können aufhören, über Diäten und andere Ernährungsregeln nachzudenken.

[00:01:12] Lenne Kaffka: Maike, wir sprechen heute übers intuitive Essen. Aber dabei geht es ja glaube ich nicht nur darum, dass wir jederzeit einfach das essen, worauf wir Lust haben.

[00:01:20] Maike Ehrlichmann: Intuitives Essen heißt eigentlich auf das hören, was von innen heraus als Botschaften kommt. Also auf die Körpersignale hören. Und denen zuzuhören, haben wir größtenteils verlernt. Das heißt, wir müssen überhaupt erst mal wieder dahin kommen. Darum ist das auch so ein Thema. Ich würde sagen intuitives Essen ist das, was die Menschheit seit Jahrtausenden gemacht hat, bis wir es dann abgeschafft haben.

[00:01:42] Lenne Kaffka: Du bist Ernährungsberaterin und sagst jetzt quasi: „Vergesst Diäten, vergesst im Prinzip alle Essensregeln“. Das klingt ja erst mal komisch. Wie kommt’s? Wie bist du zum intuitiven Essen gekommen?

[00:01:53] Maike Ehrlichmann: Weil ich eben alle Regeln hoch und runter studiert habe und immer wieder versucht habe, mit denen stringent den Menschen weiterzuhelfen bei ihren Problemen. Ob das jetzt Diabetes ist, der Blutzucker war zu hoch, das Gewicht war zu hoch, die Cholesterinwerte. Und ich habe die Listen gesehen, auf denen steht, wer was essen sollte. Ich habe gesehen, es hilft quasi überhaupt nicht, denn wir arbeiten nicht mit Maschinen, wir arbeiten ja schließlich mit Menschen. Und dann habe ich einfach eine lange Weile geguckt und gesucht: was gibt es denn für Alternativen? Wie kriege ich denn Menschen auf dem psychologischen Weg allein auch schon mal dahin, ihr Essverhalten zu ändern? Und mit dem intuitiven Essen schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Vom Körper her perfekt das, was er braucht und von der Psyche her geht’s einem einfach richtig gut damit.

[00:02:36] Lenne Kaffka: Klingt ein bisschen so, als ob das, was du im Studium gelernt hast, gar keinen Sinn ergibt.

[00:02:43] Maike Ehrlichmann: Ähm, ja. Tatsächlich ist es ein bisschen so. Also ich habe einfach nach dem Studium angefangen, damit zu arbeiten. In der Ernährungsberatung. Und habe parallel dazu für einen Autor viele Recherchen gemacht im wissenschaftlichen Bereich und da ganz vorne geguckt, was wirklich jetzt aktuell in der Ernährungswissenschaft angesagt ist, wo sie die Probleme sehen. Das sind alles Dinge, die in der Ernährungsberatung zu der Zeit noch nicht angekommen waren. Und da fiel mir auf, dass man diese Grundannahmen, die wir vorher hatten, zu sagen „Kalorie, ist Kalorie“ zum Beispiel. „Es ist egal, ob du jetzt tausend Kalorien oder hundert Kalorien Kartoffeln ist oder hundert Kalorien Tomaten“ – all solche Dinge, dass die überhaupt nicht stimmen. Und auch, dass diese Werte, die ich so schwarz auf weiß auf meinen Listen stehen hatte, die entsprechen nicht unbedingt der Realität. Die können gar nicht so klar gemessen werden, wie sie da sind.

[00:03:31] Lenne Kaffka: Aber gibt es nicht für manche Ernährungsstile auch gute Gründe? Also zum Beispiel gerade beim Intervallfasten heißt es ja immer: „Das unterstützt unsere Heilungsprozess im Körper“. Stimmt all sowas auch nicht?

[00:03:40] Maike Ehrlichmann: Ja, das wird jetzt schwierig. Ich will ja gar nicht sagen, dass alle Wissenschaft nicht stimmt. Ich bin vor allem immer daran zu sagen, diese Nährstoff spezifischen Herangehensweisen wie im Chemiebaukasten zu basteln: das läuft nicht. Intervallfasten finde ich ein ganz, ganz interessantes Thema – was tatsächlich helfen kann! Ja, weil wir gerade in einer Gesellschaft leben, in der wir so dauerhaft snacken, snacken, snacken, immer zwischendurch was essen. Da sind wir auch reingewachsen. Das hat ja vielleicht vor sagen wir mal 200 Jahren, 500 Jahren, bestimmt keiner gehabt, dass er sich ständig was in den Mund schieben konnte. Und deswegen heißt Intervallfasten bis zu einem gewissen Grad auch nichts anderes als normal essen. So wie der Körper das gewohnt war, weil man nicht alle fünf Minuten auf Nahrungssuche gehen kann. Die Nahrung ist zu verfügbar.

[00:04:27] Lenne Kaffka: Über das Intervallfasten haben wir hier im Podcast auch schon gesprochen. Wir haben aber auch über Clean-Eating, zuckerfreies Essen, umweltfreundliches Essen gesprochen – heute übers intuitive Essen. Glaubst du, dass wir als Gesellschaft viel zu viel über Essen nachdenken?

[00:04:38] Maike Ehrlichmann: Ich geb‘ dir da absolut recht. Ich denke das. Ich denke, dass wir inzwischen zu viel drüber nachdenken müssen. Ich glaube nicht, dass wir jetzt einfach alle aufhören können und einfach ausschalten. Denn unsere Ess-Umgebung hat sich so verändert, dass wir dazu gezwungen sind, uns das Richtige herauszusuchen. Aber ich wünschte mir, wir müssten das gar nicht. Wenn wir sagen würden, es gibt nur die Geschäfte, wo es so ganz normales, echtes Essen gibt. Die Basics. Nicht hoch verarbeitetes Industriezeug und normale Mahlzeitenrhythmen und ungestresste Leute, die nicht im Kopf schon völlig verquer sind und verwirrt sind von diesen Jahrzehnten von Ernährungslehren und Diättrends. Dann können wir aufhören mit Nachdenken. Bis dahin müssen wir noch viel üben.

[00:05:20] Lenne Kaffka: Das klingt erst mal so banal. Einfach wieder mehr auf den eigenen Hunger, auf Sättigungsgefühl achten. Ich finde das gar nicht so leicht. Ich habe das die letzten Tage mal versucht bei mir zu beobachten, bin eher gescheitert. Wie schaffe ich das dann wieder, mehr auf meine Körper Signale zu achten oder sie richtig zu deuten?

[00:05:36] Maike Ehrlichmann: Also speziell für’s Essen kann ich dir das mal erklären, vielleicht, wie ich das mache: Ich gehe da nach einer Skala, die gibt es tatsächlich auch in der Forschung. „Intuitive Eating“ ist ja auch ein großes Forschungsthema. Das ist eben etwas, worauf ich damals gestoßen bin und gesehen habe „Aha, da haben sich Leute hingesetzt und haben herausgefunden: Die Leute, die intuitiver essen sind schlanker und die hören besser auf ihre Körpersignale“. Und die haben angefangen, so eine Skala zu entwickeln für Hunger und Sättigung. Die geht quasi von links nach rechts eben in einer Skala, die kontinuierlich von „total hungrig“ – so, dass es richtig, richtig wehtut, ich fast umkippe, vielleicht schon Kopfschmerzen habe und Schwindel – bis zur anderen Seite: so voll, dass mir der Bauch wehtut, mir übel ist und ich gleich platze. Und dazwischen ist es eben ein Kontinuum. Und auf dieser Skala gibt es verschiedene Etappen, die sind eingeteilt von 1 bis 10. Und wenn sich die Menschen erst mal damit beschäftigen zu gucken: „Wo liege ich denn eigentlich? Es ist jetzt Montagmorgen, 7 Uhr. Habe ich Hunger? Was für einen Hunger habe ich überhaupt? Einen zum Umkippen?“ Und so weiter und so fort. Wenn Sie das einfach nur mal aufschreiben und notieren. Vor dem Essen, nach dem Essen. Dann fällt den meisten Leuten schon ganz viel selber auf. Das heißt, du hörst einfach nur auf dich selber, indem du versuchst, es einzusortieren. Einfach durch diese Zahl und Nummerierung. Und der Lerneffekt ist meistens der folgende: „Wenn ich esse, bevor es mir ganz schlecht geht, dann bin ich in der Lage, mir Essen auszusuchen, was mir guttut. Dann esse ich auch gar nicht so viel, und dann geht es mir rundum gut. Und dann freue ich mich, dass die nächste Mahlzeit kommt.“ Das ist so einer der Lerneffekte.

[00:07:12] Lenne Kaffka: Das heißt so einer der ersten konkreten Schritte wäre, das quasi ein paar Tage lang immer aufzuschreiben. Morgens, mittags, abends wahrscheinlich irgendwie? Oder wenn ich das Gefühl habe, ich könnte Hunger haben oder oder wie würde man dann vorgehen?

[00:07:23] Maike Ehrlichmann: Kommt auf die Person an. Wer total genervt ist von Notizen machen und schon genug zu tun hat, dem würde ich sagen: „Mach das mal einen Tag. Tipp‘ nur die Zahl kurz in dein Handy ein. Die Zahlen gehen von 1 bis 10. Tippst du rein: drei und sieben, schreibst vielleicht ein „M“ dafür Morgen oder ein „F“ für Frühstück.“ So etwas Einfaches kann man machen. Oder derjenige, der echt Lust drauf hat, macht das im Detail. Und in der Regel reichen drei Tage aus. Dann kann man sich damit hinsetzen, so mache ich das in der Beratung. Und spreche mit den Leuten drüber. Aber die Menschen haben dann schon 90 Prozent dessen erkannt, worum es eigentlich geht, wenn ich dann mit denen zusammensitze. Das ist das eine. Und dann gibt es noch etwas anderes, einen spannenden Ansatz. Auch aus diesem „Intuitiv Eating“. Das ist die Frau Professor Beate Herbert, die hier in Deutschland die Skala validiert hat. Die „Intuitiv Eating“-Skala misst letztendlich, das ist noch eine andere Skala: „wie intuitiv essen die Menschen?“ Und die hat dann Tests gemacht, nachdem sie diese Skala validiert hatte. Und hat gesehen, dass Studentinnen – also sie hatte Studentinnen gewählt – die in der Lage sind, besser auf ihren Herzschlag zu hören, auch tatsächlich intuitiver essen. Das war der Zusammenhang. Das heißt, sie hat einfach gesagt: „Setzt euch in den Sessel. Zähl mal deinen Herzschlag“. Parallel liefen Pulsmesser mit. Und die, die von der Körperwahrnehmung, also der Wahrnehmung der [00:08:41]intrasektiererischen [0.0s] Signale, die das geschafft haben, das gut wahrzunehmen, die waren auch jene, die dann intuitiv gegessen haben und weniger Gewichtsprobleme hatten. Und insgesamt einfach eine bessere Lebensmittelauswahl hatten. Das heißt die Vermutung liegt nahe, dass es nicht nur darüber geht, jetzt auf einer Skala Hunger zu lernen, sondern einfach insgesamt in sich herein zu hören.

[00:09:04] Lenne Kaffka: In deinen Coachings sprichst du auch über Signalstörer, die dafür verantwortlich sind, dass wir verlernt haben, auf unsere Körpersignale zu achten. Was sind denn diese Signalestörer zum Beispiel?

[00:09:14] Maike Ehrlichmann: Ich nenne jetzt mal die, die ich so am wichtigsten finde, ja? Am Ende ist es eine Liste von fast 10 Stück. Das kann man auch nachlesen. Aber was ich immer wieder sehe, was die Leute wirklich durcheinander bringt, ist zuallererst mal Stress. Und dafür gibt es auch ganz klare, gute Gründe. Das ist maßgeblich diese sogenannte „Selfish-Brain-Theory“. Unter Stress fordert das Gehirn oft Zucker an, also Energie an. Obwohl der Körper gar keine bräuchte. Stress führt dazu, dass da ein Hunger entsteht – der tatsächlich auch gefühlt wird, dass funktioniert auf hormoneller Ebene – der aber gar nicht notwendig ist. Das ist so der wichtigste Signalstörer. Dann sag ich mal ganz schnell ein paar andere. Jede Form von Display, also „Screen Free Eating“, wäre die einzige Diät, die ich richtig empfehlen würde. Handy aus, Bildschirm aus und so weiter.

[00:10:02] Lenne Kaffka: Weil wir abgelenkt sind, dann..

[00:10:03] Maike Ehrlichmann: Weil das einfach nicht geht, genau. Ich kann nicht voll beschäftigt sein mit meinen „bing, bing, bing, bing, bing“-Nachrichten oder dem totalen Stress der Vorbereitung des kommenden Meetings und gleichzeitig zuhören, ob ich ich jetzt vielleicht schon satt bin. Dann gibt es noch – das ist jetzt der nächste, der ganz bedeutend ist – die Substanzen im Essen, die auf chemische Art und Weise sozusagen in das Appetitsystem eingreifen und da Störungen verursachen.

[00:10:29] Lenne Kaffka: Welche sind das?

[00:10:30] Maike Ehrlichmann: Ganz wichtig und maßgeblich sind es oder die, wo es gut nachgewiesen ist, sind die Süßstoffe. Da werde ich immer für wieder angegangen, wenn ich das ausspreche, weil die Süßstoffe eine riesen Süßstofflobby hinter sich haben. Aber da gibt es tatsächlich gute Studien, dass die den Energiehaushalt durcheinanderbringen. Auch in der Form, dass mehr gegessen wird, als nötig ist. Oder aber, dass letztendlich das Energieniveau, also unsere Temperatur runter geregelt wird. Und das heißt, bei gleicher Energieaufnahme wird mehr Gewicht angesetzt. So das eine sind Süßstoffe, das heißt das ist so etwas wie Aspartam und Cyklamat und diese Sachen. Und dann sind es die Geschmacksverstärker ganz wesentlich. Das ist das Natriumglutamat oder andere Glutamatvarianten. Das ist so das häufigste. Die [00:11:18]Glyanylate [0.0s] würden ähnlich wirken, aber die kommen nicht mehr so oft vor. Und auch das Glutamat ist inzwischen oft als Hefeextrakt in unserer Ernährung drin. Und da ist auch gezeigt, dass es letztendlich gefräßig macht, dafür gibt es ganz gute Studien.

[00:11:32] Lenne Kaffka: Ist das dann auch der Grund warum du empfiehlst, möglichst unverarbeitete Lebensmittel zu essen? Weil wenn man auf deine Seite geht, auf deine Homepage, dann steht das da gleich. Und das ist auch erst mal ein irritierender Moment, weil man denkt: „Okay, ich soll jetzt auf alle Regeln verzichten. Aber gleichzeitig soll ich dann doch auf bestimmte Produkte setzen.“

[00:11:48] Maike Ehrlichmann: Ja, das mag irritieren auf den ersten Blick. Aber wenn du dir überlegt, dass ich ja sage: das Appetitsystem oder das Hunger- und Appetitsystem hat sich im Laufe der Evolution so hervorragend entwickelt, dass es uns sagen kann, was wir brauchen und wie viel wir brauchen. Dann kann man nur mal kurz überlegen, wie lange das wohl dafür gebraucht hat und seit wann es diese Produkte gibt. Und wenn es jetzt seit Jahrtausenden entstanden ist, und die Produkte gibt es seit 20 Jahren massiv. Ich würde sagen, seit zehn Jahren ist nochmal dieser Einsatz von Aromen so enorm gestiegen. Aromen gehören nämlich auch dazu, die Süßstoffe, Geschmacksverstärker, Aromen. Dann wundert es keinen mehr.

[00:12:22] Lenne Kaffka: Wie ist das mit so Sachen wie ungesunden Zeugs? Süßigkeiten jetzt nicht in industrieller Form, aber vielleicht einfach ein Kuchen mit Zucker, ein Essen mit viel Salz und fettig Angebratenes. Achtest du auf so was? Oder wenn du da einfach denkst: „Ich habe Heißhunger drauf, dann ist das auch in Ordnung“?

[00:12:37] Maike Ehrlichmann: Genauso das. Wonach ich gehe, ist zu sagen: „was will ich wirklich essen?“ Und „was will ich wirklich essen“ heißt nicht, worauf – entschuldigung, ich sage es mal ganz salopp – „worauf hab ich gerade Bock?“ Sondern „Was will ich wirklich? Und was tut mir gut?“ Ich glaube, diese Erfahrung haben wir im Leben, in vielen anderen Bereichen auch. Wenn wir jetzt überlegen: Keine Ahnung, hast heute Abiturprüfung und sagst so: „ich hätte jetzt total Bock, schwimmen zu gehen“, dann machst du das auch nicht. Es ist einfach keine gute Entscheidung. Und so ähnlich kann es auch sein, wenn du dir sagst: „ich hab jetzt einfach total Bock auf ’ne Currywurst mit Pommes“ und du hast das ja an dem Laden, wo du schon weißt, dir ist hinterher schlecht, weil es immer so ist, dass dir hinterher schlecht ist, dann ist das nicht die Entscheidung, wo man sagen kann: „das will ich wirklich essen“. Wirklich essen will man das, wo es einem vorher gut geht, wenn man sagt: „ich freu mich drauf, ich freue mich richtig drauf, das gleich zu essen“. Beim Essen kann man sagen: „es schmeckt mir, es geht mir gut, ich genieße das“. Und nach dem Essen sagt man: „gut. Mir geht es gut“. Und diese drei Faktoren sind bei den meisten Menschen noch ziemlich selten erfüllt.

[00:13:39] Lenne Kaffka: Heißt das dann aber auch im Umkehrschluss: das was ich nicht mag, das muss ich nicht essen?

[00:13:43] Maike Ehrlichmann: Ja, das ist die Frage, was du wirklich nicht magst. Es gibt ja so Sachen, wo man einfach sagt: „das sieht so komisch aus“. Das hast du vielleicht nie probiert, da kannst du nicht wirklich behaupten du magst es nicht. Aber wenn du etwas wirklich nicht magst geschmacklich und du hast es ehrlich probiert: genau, brauchst du nicht! Es gibt kaum ein Lebensmittel, was man nicht ersetzen könnte.

[00:14:04] Lenne Kaffka: Okay, du hast auch gerade was Interessantes angesprochen. Kann es sein, dass wir auch Lebensmittel erst einmal probieren müssen, um auch Appetit auf Sie zu bekommen?

[00:14:11] Maike Ehrlichmann: Ja, unbedingt. Das ist der Punkt. Das kennen wir bei kleinen Kindern ja ganz gut. Dass die ewig davor sitzen und sagen: „das sieht so komisch aus, Grüne Pampe will ich nicht“. Und am Ende mögen sie es ganz gerne. Und so ähnlich ist es bei uns auch notwendig, dass wir uns quasi erst mal mit diesem Datensatz füttern. Denn es geht hier um eine Beziehung zu dem Lebensmittel und die Sprache ist letztendlich eine Beziehung zum Essen, und die Sprache geht in Lebensmitteln. Wenn ich Appetit auf etwas habe, kann ich nicht Appetit auf den Nährstoff haben. So wie immer dieses Nährstoff-Denken bisher in Ernährungsberatung wäre. Ich kann nicht sagen: „ich hab‘ so Bock auf Omega 3“ aber man könnte eben sagen: „Lachs! Ich würde gern mal wieder Lachs essen oder die Walnüsse oder so etwas“. Oder man nimmt einen Löffel Leinöl und denkt: „das kann so weitergehen, nehme ich noch einen und noch einen“. So kann man eben Appetit auf Lebensmittel haben, nicht auf Nährstoffe. Der Körper muss nun also die Chance haben, das Lebensmittel zu bekommen, es abzuscannen, abzuspeichern. Ob der nun tatsächlich notiert: „das ist Omega 3“ oder ob er dieses Gesamtgefühl des Zustandes einfach nur abspeichert, das können wir alle noch nicht sagen. Aber wir wissen, dass sich dem auszusetzen notwendig ist, um es dann zu verlangen.

[00:15:22] Lenne Kaffka: Jetzt kann ich mir natürlich vornehmen, mich damit auseinanderzusetzen, genau diese ersten Schritte zu machen. Im Alltag wird es ja aber mein Leben lang so sein, dass ich immer wieder mit Stress, mit emotionalen Schwankungen, mit irgendwelchen Verlockungen, Ablenkungen zu kämpfen habe. Wie viel Selbstreflexion ist dauerhaft nötig, um das wirklich auch durchzuhalten? Was hilft dabei, im Alltag damit klarzukommen?

[00:15:43] Maike Ehrlichmann: Ich muss jetzt im Prinzip gar nichts mehr tun. Es ist tatsächlich eine Phase der Umstellung. Das verselbstständigt sich total. Man übt einfach, dem Essen viel mehr Wert zu geben. Also zu sagen: „das, was ich esse, da denke ich dreimal drüber nach, damit es mir gut geht“. Und dieser Zustand danach ist dann so gut, dass man dabei bleiben will. So könnte man es sagen. Es gehört ja auch tatsächlich eine Art Umstellungstraining dazu, um das zu machen. Und das sind vielleicht zwischen drei Wochen bis drei Monate. Je nachdem, wie die Klienten drauf sind und dann musst du nichts mehr machen. Und das ist das Schöne, dass du wirklich gar nichts mehr machen musst, außer bewusst nicht mehr durch die Timeline scrollen und die nächsten Esstipps durchlesen.

[00:16:22] Lenne Kaffka: Also am Anfang bedeutet es quasi man muss ganz viel über Essen nachdenken. Aber nach einer kurzen Umgewöhnungsphase hört das dann komplett auf.

[00:16:28] Maike Ehrlichmann: So kann man es sagen. Also man muss erst mal gar nicht über das Essen – sondern man muss ganz viel über diesen Zustand. Hunger, Sättigung, „was tut mir gut?“ Vielleicht auch: „wo kriege ich was her?“ Das sind ja oft die Alltagsprobleme. Dass Sie sagen: „ja, aber ich gehe aus dem Haus, habe nichts gegessen und ich gehe an fünf Bäckereien vorbei und es riecht da nach süßen Teilchen und ich habe keine Zeit, mir etwas selber zu machen“. Dann musst du dafür eine Lösung finden. Wenn die Lösung da ist, dann sitzt die. Dann braucht man nichts mehr machen.

[00:16:54] Lenne Kaffka: Du sprichst schon die Bäcker an. Im Alltag ist es ja auch so, dass ich das Gefühl habe, dass man ja eigentlich immer wieder dieselbe Auswahl hat. Es gibt an jeder Ecke irgendwie Döner, Pommes, Pizza, Currys und Burger, vielleicht. Aber wie viel Planung ist denn nötig, wenn mein Körper mir sagt: „ich will ’nen Linseneintopf“. Den kriege ich zum Beispiel jetzt hier bei mir in der Gegend nicht einfach an jeder Ecke. Der ist jetzt nicht verfügbar. Wie gelingt mir das denn dann auch wirklich, das, was mein Körper mir sagt, erfüllen zu können? Gerade im Alltag?

[00:17:20] Maike Ehrlichmann: Das ist wirklich ein ganz zentrales Thema, weil es in unserer Gesellschaft oder in unseren Städten, in den Dörfern natürlich noch weniger, einfach nichts angeboten wird. Das heißt, wir müssen die Situation des Einzelnen Klienten einfach mal angucken und gucken: was hat er in seiner Umgebung? Manche haben eine gute Kantine und da müssen sie eben die Zeit verwenden, mittags richtig satt zu werden, damit sie nicht abends auf dem Rückweg wahnsinnigen Hunger haben. Dass man so denken muss. Andere wissen aber, wo sie in einem Restaurant was bekommen könnten, nehmen dann den Mehraufwand, auf sich dorthin zu gehen. Wieder andere üben, wie sie mit möglichst wenig Aufwand sich ein Essen zubereiten können, was sie dann mittags mitnehmen können. Dann geht es auch darum, dass Kochen gar nicht so viel Zeit kostet, sondern das über das Kochen nachdenken kostet Zeit. Das heißt, wenn ich mit den Leuten trainiere, etwas, was ich „Küchen-Cleverness“ nenne oder so eine „Küchen-Logistik“; traniere darüber nachzudenken, wie ich Montag, Dienstag, Mittwoch ein bisschen organisieren kann. Welches Einkaufen zweimal die Woche reicht, damit alles da ist und welche Gerichte ich abends in zehn Minuten gemacht habe. Dann klappt das. Und dann fällt es auch enorm leicht. Wenn du dann weißt, du hast vielleicht den Linseneintopf nicht zuhause aber du weißt, du braucht 15 Minuten für die hervorragende Linsensuppe mit Kokos, die du einfach so aus dem ärmel schüttelst, während du nochmal deine Wäsche in die Waschmaschine steckst oder so – dann kannst du auch viel gelassener abwarten.

[00:18:43] Lenne Kaffka: Du hast jetzt auch gerade schon die Kantinen angesprochen und damit verbunden ist ja auch ein anderes Problem. Wir skypen jetzt gerade um halb Eins. Wir müssen uns ranhalten, wenn ich hier gleich noch Mittag haben will. Die Kantine schließt bei uns um halb Zwei. Heißt, im Arbeitsalltag sind wir ja ganz oft an Kantinenzeiten aber auch an bestimmte Pausenzeiten, an Termine gebunden. Also in gewisser Weise ja auch irgendwie fremdbestimmt. Wie geht man denn damit um? Also ist so ein fester Mittagspausen-Rhythmus – widerspricht das dem intuitiven Essen oder kann man den Hunger irgendwie planen?

[00:19:14] Maike Ehrlichmann: Sehr gute Frage. Ist tatsächlich auch eine Forschungsthema. Deswegen muss ich so ein bisschen schmunzeln, weil es immer wieder diskutiert wird: „Wer braucht sein Essen wann?“ Und da wurde ganz gut beobachtet, dass wir zwar feste, eigene Rhythmen haben. Der eine isst morgens mehr, der andere auch abends mehr. Aber so diese leichten Nuancen, sagen wir mal anderthalb Stunden früher oder später, da kann sich der Körper ganz gut an einen festen Rhythmus anpassen. Und da bedeutet das einfach: wiederholen, wiederholen! Und der Körper fragt dann danach. Das heißt, wenn du immer um Eins isst, kriegst du auch um Eins Huner.

[00:19:44] Lenne Kaffka: Angenommen, ich merke jetzt bei der Arbeit, ich bekomme Hunger. Wie gehe ich denn eigentlich mit dem um? Also kann ich den ruhig warten lassen? Muss ich den immer sofort direkt befriedigen und sagen: „Hier, du kriegst dein Essen“?

[00:19:58] Maike Ehrlichmann: Da ist es dann hilfreich, wenn du mit dieser Skala schon mal gearbeitet hast. Diese Skala von 1 bis 10. Dann weißt du für dich schon im Kopf ziemlich genau: „das ist der Hunger, bei dem kriege ich jetzt gleich so schlechte Laune, dass ich besser keinem Kollegen begegn“. Oder: „das ist der Hunger, bei dem kann ich jetzt auch nicht mehr vernünftig denken und arbeite nicht mehr effektiv“. All solche Dinge gibt es ja. Und dann weißt du, dagegen musst du was tun. Und dann kennst du aber auch den Hunger, den du gut aushalten kannst. Wichtig ist dann, dass du bei dir in der Schublade, in der Handtasche, im Schrank, im Sozialraum oder was man eben so auf der Arbeit zur Verfügung hat, ein paar Snacks hast, die dir dann weiterhelfen können. Im Spanischen gibt es ja diese Tapas, diese ganz kleinen Gerichte. Tapas heißt ja „Deckel“. Wir sollten den Hunger einfach einmal deckeln. Solche Deckelchen müsstest du im Alltag parat haben, weil es sie nicht überall um uns herum gibt. In anderen Kulturen ist das anders. Da gibt es vielleicht Streetfood überall um die Ecke. Was sinnvoll ist. Sowas wie kleine Fleischbällchen, nur sind die aus Linsen gemacht. Die gibt es in manchen Ländern an jeder Ecke, sind köstlich. Dazu das Ganze serviert auf einem Blatt Salat mit ein bisschen Zitronensaft drauf, vielleicht noch Granatapfelsauce. So. Ist doch königlich. Das kannst du dir eben mal zwischendurch genehmigen, schmeckt gut, macht dich total satt, Proteinbombe – und glücklich. Das haben wir nicht, deswegen müsstest du was liegen haben.

[00:21:18] Lenne Kaffka: Mein erster Gedanke war auch irgendwie, als ich mich mit dem Thema beschäftigt habe: wird man dann nicht vielleicht auch dick, wenn ich immer nur auf meine Bedürfnisse höre? Wahrscheinlich wirst du das häufig gefragt.

[00:21:28] Maike Ehrlichmann: Diese Befürchtung ist auch die größte Blockade, um überhaupt wieder auf Signale zu hören. Das heißt natürlich auch, wenn man psychologisch ran geht an das Ganze: „Ich habe das Vertrauen zu mir verloren, ich traue mir das nicht zu, die anderen müssen das für mich regeln“ und so weiter und so fort. Kann man drüber diskutieren. Aber ich sehe es mal als eine Hilflosigkeit. Man hat so viel gehört, da traut man sich das tatsächlich einfach nicht mehr zu, weil man ja glaubt, da muss an den Regeln etwas dran sein. Also wenn ich die ganze Zeit überlege: „darf ich jetzt um diese Uhrzeit noch drei Kartoffeln essen?“ Dann kann ich nicht merken, wann ich aufhören soll. Würdest du aber überhaupt nicht darüber nachdenken, kannst du den Teller noch so voll hauen und innerlich einfach kurz checken: „wie viel Hunger habe ich? Wann bin ich satt?“ Und in dem Moment, das ist auch ein ganz entscheidender Aspekt, um intuitiv essen zu lernen, in dem Moment aufhören, wo du weißt: „jetzt bin ich satt“. Dann ist das egal, wie voll dein Teller war. Dann würdest du halt für zwei, drei, vier Tage mal ein bisschen Essen auf dem Teller liegen lassen. Das ist vielleicht nicht schön, Essen wegzuwerfen, aber wenn man das ein paar Tage macht, ist es einfach nur der Lerneffekt. Und dann ist gut.

[00:22:30] Lenne Kaffka: Und ist es nicht so, dass, wenn mir Essen besonders gut schmeckt, dann fällt es mir schwerer, glaube ich, aufs Sättigungsgefühl zu achten, oder?

[00:22:37] Maike Ehrlichmann: Oh ja, das ist schön. Damit hast du ein ganz großes Thema angesprochen, das tatsächlich auch zum Teil in der Forschung behandelt wird. Dass man diese Behauptung versucht zu widerlegen, oder es gibt Studien, die das Widerlegen. Der Volksmund sagt „wenn es gut schmeckt, dann esse ich mehr“, stimmts?

[00:22:54] Lenne Kaffka: Ja.

[00:22:54] Maike Ehrlichmann: Genau. Und dann haben sie Untersuchungen gemacht. Das wäre jetzt ein Beispiel. Eine Tomatensuppe und eine Tomatensuppe, die schön gewürzt war, fein abgeschmeckt mit ein bisschen Chili und so. Und von der gut gewürzten Tomatensuppe, die durchgängig allen Probanden besser geschmeckt hat, haben sie weniger gegessen. Wenn du dir jetzt ’ne richtig, richtig supergute Schokolade raussuchst, die richtig, richtig genial schmeckt, dann isst du davon wahrscheinlich weniger, als die billige Schokolade, die dir auch gar nicht so richtig schmeckt. Aber die ist nun mal da. Und das Gleiche funktioniert auch, wenn du zum Beispiel sagst Du hast einen guten Käse, der würzig ist, aromatisch reif, oder sagen wir, einen billigen Gouda aus dem Discounter. Dann nimmst du weniger Menge auf, tatsächlich. Was im Hinterkopf ist, ist dieses Gefühl der Freude, wo man sagt: „ich komm da rein, es ist vielleicht Weihnachten. Es gibt diesen einen Kuchen, den es nur einmal im Jahr gibt, und dann stürze ich mich drauf“. Wenn es den nur einmal im Jahr gibt, kann das sein. Wenn ich aber so allgemein verfügbare Sachen habe – wir reden hier über Alltag – dann essen die Leute von den Sachen, die richtig gut schmecken, weniger. Oder sind zufriedener. Denn das gibt es auch oft. Die Menschen kommen aus der Kantine, hauen sich den Bauch ziemlich voll, um bei diesem Vollhauen zu bleiben. Nicht nur den Teller, sondern auch den Bauch. Und hinterher sind sie trotzdem nicht zufrieden. Und dann suchen sie noch irgendwas.

[00:24:09] Lenne Kaffka: Würdest du denn sagen, dass wirklich jeder sich so ernähren kann? Also ist es eine Ernährungsart, die wirklich für alle Menschen möglich ist? Oder gibt’s bestimmte Leute, die das eher lassen sollten?

[00:24:18] Maike Ehrlichmann: Ja, alle normalen Menschen, ja. Das ist ja die Logik. Wenn ich sage, evolutionär hat sich das so entwickelt, das System funktioniert, um uns gesund und fit zu erhalten, dann sage ich ja auch es ist eben für alle Menschen. Wenn jetzt jemand kommt, der eine ganz, ganz akute, schwierige Nierenerkrankung hat und in ganz engen Richtlinien gucken muss, dass seine Kreatinwerte stimmen, den würde ich nicht einfach aufs intuitive Essen bringen. Da würde ich erst mal gucken, dass das Gleichgewicht wieder eingestellt ist, der Stoffwechsel wieder funktioniert, das Organ wieder funktioniert. Und wenn dann alles stimmt, könnte man sehen, wie diese Vorgaben, die derjenige vielleicht jetzt aus dem Krankenhaus vom Dialysewert mitbekommen hat, wie diese Vorgaben ohnehin seinen Bedürfnissen entsprechen und wie man diese Bedürfnisse stärken kann.

[00:25:04] Lenne Kaffka: Was ist mit Leuten, die gerne abnehmen wollen? Wir haben jetzt eben schon gehört, dass man nicht dick wird davon. Und ich habe jetzt mehrfach gesehen, dass zum Beispiel das intuitive Essen auch mit „Schlank trotz Pizza“, „Schlank mit dem Lieblingsessen“ beworben wird. Ist das nicht der falsche Impuls?

[00:25:19] Maike Ehrlichmann: Ich würde ja nicht darauf gehen wollen, auf schlank sein. Aber das ist natürlich auch der Wunsch meiner Klienten. Und es ist auch das Ergebnis. Es ist tatsächlich so, dass dieses „Intuitive Eating“ halt als Forschungsthema entstanden ist, weil man gesagt hat: „die, die intuitiver Essen sind schlanker, haben ein niedrigeres Körpergewicht und machen die bessere Lebensmittelauswahl“. Das heißt im Umkehrschluss, stelle ich um auf intuitiv, verlieren die Leute Gewicht. Es sei denn, sie sind wahnsinnig dünn. Dann nehmen sie in der Regel zu. Das heißt, ich balanciere das aus.

[00:25:48] Lenne Kaffka: Ich habe mich bloß gewundert, weil es geht ja ein Stück weit darum, sich freizumachen von diesem permanenten Auseinandersetzen mit Essen, den Gedanken darum. Wenn ich jetzt etwas anfange, um damit etwas zu bewirken, kann man dann wirklich so frei mit seinem Essen umgehen? Hat man dann nicht doch im Kopf wieder ein gewisses Ziel, auf das man hin strebt? Kann es dann überhaupt noch funktionieren?

[00:26:09] Maike Ehrlichmann: Du meinst, dass der Gedanke „ich will abnehmen“, dich davon abhält, auf die Signale zu hören?

[00:26:16] Lenne Kaffka: Ja, ich also ich würde das als eine Ablenkung empfinden.

[00:26:19] Maike Ehrlichmann: Ja, diese Fixierung darauf muss tatsächlich aufhören. Die Fixierung und die Ängste vor dem Gramm mehr oder die Ängste vor zum Beispiel der Butter. Die Menschen haben wahnsinnige Angst vor Butter und vor Sahne, obwohl das mit den Fettarmen ja auch schon 30 Jahre zurückliegt. Aber das wird immer noch weitergetragen. Das sind kollektive Ängste, die da durchgehen. Und jetzt haben Sie doch dazu auch noch Angst vor den Kartoffeln und Angst vor den Nudeln, weil es ja jetzt „Low Carb!“ heißt. Sie haben Angst vor allem Essen. So was muss man erst abbauen. Und das kommt oft zusammen: also die Menschen, die abnehmen wollen, bringen oft diese Ängste verstärkt mit, weil sie schon alle Sachen durchgemacht haben. Aber du kannst es trotzdem dazu nutzen. Wenn du lernst – ist ein kleines Paradox – „ich muss loslassen, um abnehmen zu können“. Das ist so, wie wenn du Skifahren gehst. Du stehst oben am Hang, und du weißt, du musst jetzt ganz locker bleiben in den Knien, sonst geht es schief. Nur nicht so gefährlich wie Skifahren. Du musst es schon einmal hinkriegen, irgendwo da diese Entspanntheit reinzuholen. Und dafür gibts dann ja eben den Trick, dass die Leute sich an etwas festhalten können. Und das sind die Zahlen auf diesen Skalen,wie mit dieser Hunger-Skala zum Beispiel. Und das hilft dann auch, dass Sie dann doch sehen: „Es gibt etwas, woran ich mich festhalten kann“. Und nach ein paar Tagen stellen sich die Erfolge ein und dann ist gut.

[00:27:34] Lenne Kaffka: Sag‘ mir nochmal mal zum Schluss.. Wir haben jetzt gerade gehört, viele Leute machen das tatsächlich, um abzunehmen: warum fühlt sich es denn für dich einfach besser an, dich so zu ernähren?

[00:27:41] Maike Ehrlichmann: Ich denke gar nicht so sehr an mich dabei. Ich habe meine meine Ernährungsprobleme, die auch im Studium sicherlich mal verstärkt werden. Da wird ja viel so ein Denken geschürt. Die habe ich längst erledigt. Aber die letzten, sag ich mal 10, 15 Jahre, hat mich beschäftigt, wie ich den Leuten eine echte, ehrliche, dauerhafte Lösung geben kann. Wenn ich den Menschen dauerhaft helfen möchte, dann müssen sie lernen, mit welcher Ernährung sie sich wirklich gut fühlen und in welcher Situation sie wie reagieren sollen. Wenn die jetzt drei Stunden wandern gehen oder vier Stunden wandern gehen und abends um halb zehn auf der Hütte ankommen, dann sollen sie doch bitte so viel essen, wie es ihnen einfach gerade richtig gut tut – und nicht über irgendeinen Diätplan nachdenken. Das kann kein Mensch seriös sagen, wie viel die tatsächlich verbraucht haben. Oder jemand, der unter wahnsinnigem Stress ist, der verbraucht vielleicht auch mehr oder braucht andere Nährstoffe. Und wir sehen immer mehr in der Ernährungsberatung, dass die Nährstoffbedürfnisse viel individueller sind, als wir uns das je vorher hätten vorstellen können. Diese Listen, von denen ich gesprochen habe, wo steht männlich, 25, so viel Kalorien, so viel Vitamin C, so viel Mikrogramm Eisen. Die Listen sind nur grobe Richtwerte und die können – das sehen wir – viel, viel mehr abweichen, als wir uns das noch vor 20 Jahren vorstellen konnten

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