Der Wunsch nach Cannabis-Fertigarzneimitteln wird lauter

Die Patientenversorgung mit Medizinalcannabis beruht seit 2017 auf einer Übergangslösung: Denn die Therapie spielt sich fast ausschließlich außerhalb zugelassener Fertigarzneimittel ab. Die Lücke zu schließen, hätte für Leistungserbringer und Patienten einige Vorteile. Viele Hersteller streben Zulassungen an. Cannabisblüten als Fertigarzneimittel scheinen aber noch fern.

Das Gesetz „Cannabis als Medizin“ ermöglichte im März 2017 die indikationsfreie Verordnung von medizinischem Cannabis. Damit wurde die Kostenübernahme für Arzneimittel erreichbar, die nicht als solche zugelassen sind. Dafür müssen Patienten einen Antrag bei ihrer Krankenkasse stellen.

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Cannabis als Medizin

Das war ein Systembruch in der Arzneimittelversorgung und als Zwischenlösung vorgesehen. So sieht es zumindest das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) [1]. Im Abschlussbericht zur Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln schrieben 2022 die Autoren des Bundesinstituts: Die Maßnahmen sollten „sowohl die Versorgungssicherheit herstellen als auch Anreize für die Erforschung von Cannabisarzneimitteln bieten, um mittelfristig die arzneimittelrechtliche Zulassung von Fertigarzneimitteln zu erreichen.“

Ziel müsse es bleiben, die Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln in klinischen Studien zu belegen und die Zulassung von Fertigarzneimitteln anzustreben. Nur so könne man den „Systembruch“ heilen.

Aber genau wie im Jahr 2017 sind auch 2023 in Deutschland lediglich zwei Fertigarzneimittel zugelassen, deren Wirkung auf dem psychoaktiven Cannabinoid Tetrahydrocannabinol (THC) beruht: 

  • das Oromucosalspray Sativex® zur Symptomverbesserung bei erwachsenen Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik aufgrund von Multipler Sklerose (MS) und 
  • Canemes®, das das synthetische Cannabinoid Nabilon enthält und zugelassen ist zur Behandlung von chemotherapiebedingter Emesis und Nausea bei Krebs-Patienten. 

Neu hinzu kam lediglich Epidyolex®, eine Lösung zum Einnehmen mit dem nicht-psychoaktiven Wirkstoff Cannabidiol (CBD). Das Arzneimittel ist indiziert als Zusatztherapie von Krampfanfällen beim Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS), dem Dravet-Syndrom (DS) oder der Tuberösen Sklerose (TSC) [2].

„No-Label-Use“ als Regelfall

Zwar steigen die Verordnungszahlen von Sativex® – die Off-Label-Anwendung von Fertigarzneimitteln muss ebenfalls bei der Krankenkasse beantragt werden –, die allermeisten Patienten werden aber mit Dronabinol, Cannabisextrakten oder -blüten behandelt.

Bei der Anwendung von Arzneimitteln, die nicht zugelassen sind, spricht man von „No-Label-Verordnungen“. Das heißt: Die Therapie mit einem zugelassenen Fertigarzneimittel entsprechend der Indikation ist beim Cannabis die Ausnahme. Tritt ein Schadensfall im Zusammenhang mit der Therapie auf, haften verschreibende Ärzte. Beim Fertigarzneimittel läge die Haftung beim pharmazeutischen Unternehmer, zumindest wenn es für die zugelassene Indikation eingesetzt wird.

Vorteile der Blüte

Jenseits der Rechtssicherheit hätte die Zulassung neuer Cannabis-Fertigarzneimittel viele weitere Vorteile, sagt Melanie Dolfen. Sie ist Inhaberin der Bezirksapotheke in Berlin und eine der ersten Apothekerinnen, die sich in Deutschland auf die Cannabisversorgung spezialisierte. „Es würde kleineren Apotheken erleichtern, Cannabis-Verordnungen einzulösen, die sonst wenig Kapazitäten in der Rezeptur haben“, sagt sie. „Die Fertigarzneimittel-Zulassung, insbesondere für Blüten, würde außerdem zu einer Entstigmatisierung der Cannabis-Patienten beitragen.“ Und nicht zuletzt würde es die Kostenerstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung sicherstellen. 

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Denn die könnte künftig schwieriger werden. Nach einem Vorschlag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) könnte die Cannabisblüten-Verordnung bald an stärkere Hürden gekoppelt werden – zum Beispiel, indem sie nur noch bestimmten Facharztgruppen überlassen wird [3]. Auch diskutiert der G-BA, dass Ärzte eine Blüten-Verordnung künftig besonders begründen müssten, etwa dadurch, dass ein besonders schnelles Anfluten des Wirkstoffes erwünscht sei. Zahlreiche Cannabisverbände und Experten, darunter auch Melanie Dolfen, sind empört. Sie fürchten, eine restriktive Cannabis-Verordnung dränge die Patienten zurück auf den Schwarzmarkt. 70 Prozent ihrer Patienten würde der Beschluss des G-BA treffen, schätzt sie.

Dabei haben Cannabisblüten als Therapie für Dolfen einen entscheidenden Vorteil. „Bei den zugelassenen Fertigarzneimitteln oder Tropfen klagen die Patienten schneller über unerwünschte Nebenwirkungen durch THC“, sagt Dolfen. In der Folge werden Therapien oft abgebrochen. „Vielen Patienten, die noch nie mit Cannabis Kontakt hatten, ermöglichen wir so den Einstieg zu einer wirksamen Therapie“, sagt sie.

Vernachlässigt für das „einfache Geld“? 

Rein theoretisch ist die Zulassung von Cannabisblüten als Arzneimittel denkbar. Liegen alle nötigen Unterlagen für eine Zulassung vor, könnten Blüten ohne Hilfsstoffe verpackt werden und mit den vorgeschriebenen Begleittexten als Fertigarzneimittel in Verkehr gebracht werden [4]. Doch die Zulassung von Cannabisblüten als Fertigarzneimittel scheint für Unternehmen wenig attraktiv zu sein.

Cannabis als Fertigarzneimittel

Wann gibt es die Blüte als Fertigarzneimittel, Herr Rossoni?

Auf Anfrage der DAZ antwortet Demecan, der einzige deutsche Hersteller von Medizinalcannabis: Man prüfe kontinuierlich, ob die Fertigarzneimittelzulassung ein sinnvoller Schritt sei. Zuvor müsse „klar definiert werden, welchen zusätzlichen Mehrwert“ die Zulassung bringen würde. Auch sei der Kostenaufwand so hoch, dass es nur schwer von kleinen Betrieben realisiert werden könne.

Apothekerin Melanie Dolfen sieht es so: „In den letzten Jahren hätte viel mehr Geld in die Forschung investiert werden müssen. Weite Teile der Cannabisindustrie bereiten sich nicht auf die Fertigarzneimittelzulassung von Cannabisblüten vor – sondern auf die Legalisierung.“

„Big Pharma“ ist im Rennen

Ähnlicher Meinung ist Alessandro Rossoni, Geschäftsführer des deutschen Cannabis-Großhändlers Nimbus Health. Für Unternehmen, die von Investoren getrieben werden, geriet die Legalisierung und damit die Hoffnung auf das „einfache Geld“ in den Fokus. Für Rossoni ist das aber nicht der einzige Grund, weshalb es bis heute keine Cannabisblüten als Fertigarzneimittel gibt. „Aus dem Rohstoff Cannabisblüte oder -Extrakt ein Fertigarzneimittel zu entwickeln, ist komplex und vielleicht nicht der richtige Ansatz“, sagt er. Eine bestimmte Cannabisblüten-Varietät als Fertigarzneimittel kann er sich nicht vorstellen. Eher möglich sieht er eine Blüte als Komponente in Verbindung mit Devices, die eine standardisierte, replizierbare und kontrollierbare Inhalation der Blüten ermöglichen.

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Doch selbst dann wäre eine Zulassung mit großem Aufwand verbunden. „Hersteller müssten von allen Komponenten der Blüte ein Profil erstellen, um nachzuweisen, dass das Tetrahydrocannabinol (THC) der aktive Wirkstoff in Kombination mit den vielen anderen Inhaltsstoffen ist“, sagt Rossoni. Dabei stelle sich die Frage, welche der vielen Komponenten Wirkungen oder Nebenwirkungen begünstigen. „Daher haben wir bei den derzeitig zugelassenen Arzneimitteln in der Regel THC und oder CBD in Reinform.“

2022 wurde Rossonis Cannabis-Unternehmen Nimbus vom indischen Pharma-Riesen Dr. Reddy’s Laboratories übernommen. Nun soll gemeinsam die Arzneimittelentwicklung vorangetrieben werden [5]. Der junge Geschäftsführer ist sich sicher: Nun, da „Big Pharma“ mit im Rennen ist, ist der Weg zu neuen Cannabis-Kapseln, Sprays und Tabletten geebnet. „Gemeinsam mit Dr. Reddy’s streben wir die Entwicklung von Medikamenten in Bereiche an, die bisher nur unzureichend mit herkömmlichen Cannabis-Darreichungsformen behandelt werden können.“ Er schränkt aber ein: Der Weg zum Fertigarzneimittel sei lang.

Extrakte und Cannabinoide in der Pipeline

Einzelne Unternehmen sind weiter. Endosane, ein Tochterunternehmen der Sanity Group, erprobt derzeit ein synthetisches Cannabinoid für die Indikationen Schizophrenie in einer klinischen Studie der Phase II. Auf Anfrage teilt das Unternehmen mit, 2024 eine Zwischenauswertung vornehmen zu wollen. Eine weitere Studie der klinischen Phase I bereitet das Unternehmen für die Indikationen posttraumatische Belastungsstörungen und soziale Angststörungen vor.

Auch die Firma Vertanical entwickelt Cannabis-Fertigarzneimittel. Zuletzt gab das Unternehmen bekannt, dass das Unternehmen einen Cannabis-Vollextrakt für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen in einer klinischen Phase-III-Studie erprobt [6].

Welche Zulassungen wären möglich?

Cannabisblüten, -Extrakte oder ölige Zubereitungen müssten als pflanzliche Arzneimittel zugelassen werden. Für Phytopharmaka kommen unter Umständen vereinfachte Zulassungsverfahren infrage – allerdings nicht bei Cannabis-Arzneimitteln. Denn Phytopharmaka, die seit 30 Jahren medizinisch im Einsatz sind, können als „traditionelles Arzneimittel“ zugelassen werden – aber nur dann, wenn die Therapie keiner ärztlichen Überwachung unterliegen bräuchte. Bei der „Well-Established-Use“-Zulassung müssten Hersteller keine klinischen Untersuchungen vorlegen, wenn das Phytopharmakon zehn Jahre angewendet wurde – mit anerkannter Wirksamkeit und Sicherheit, die öffentlich zugängliche Daten belegen. Beides gilt für Cannabis nicht. Zur einzigen großen Datenerhebung in Deutschland, der Begleiterhebung des BfArM, schreiben die Autoren selbst: Mit den Daten könne „ein Beleg der Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabis-Arzneimitteln nicht erbracht werden.“

Was wird aus der Blütenversorgung?

Es ist also nicht unrealistisch, dass schon bald mehr Patienten mit Fertigarzneimitteln auf Cannabisbasis entsprechend der Indikation therapiert werden. Der Cannabis-Unternehmer Alessandro Rossoni stellt aber klar: „Grundsätzlich sollte das Ziel nicht sein, ein Naturprodukt mit breitem Wirkspektrum zu ersetzen.“

Auch, wenn die Fertigarzneimittelzulassung bei Extrakten und Blüten schwierig sei, habe die BfArM-Begleiterhebung gezeigt, wie hilfreich die Therapien für viele Patienten sein kann. „Auch künftige Fertigarzneimittel werden Cannabisblüten und Cannabisextrakte mitsamt Synergien und Entourage-Effekten nicht vollumfänglich ersetzen.“

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Der Gemeinsame Bundesausschuss scheint anderer Meinung zu sein. Dieser will sich noch in den ersten Monaten 2023 festlegen, wie die Verordnung insbesondere von Cannabisblüten weitergehen soll. Die Verordnung ist teuer. Die restriktiven Vorschläge zur Blütenverordnung begründet der G-BA damit, dass die Anwendung von Cannabisblüten schwierig zu steuern sei.

Rossoni hält dagegen: „Immer wieder berichten erfahrene Schmerztherapeuten, dass es Ihnen gelingt, mithilfe von Cannabis andere Medikamente mit erheblich größerem Risikopotential einzusparen.“ Der Nimbus-Geschäftsführer glaubt aber nicht, dass der G-BA die Verordnung erheblich einschränken können wird. Denn seit 2017 gebe es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Cannabistherapien, der umgesetzt werden müsse.

Doch unerheblich davon, wie sich der G-BA entscheiden wird: Bis die Cannabistherapie im Rahmen der Arzneimittelzulassung stattfindet, dürfte das Thema zwischen Patienten, Leistungserbringern und Kostenträgern unter Spannung bleiben.

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Literatur

[1] Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6. Bonn, 6. Juli 2022, www.bfarm.de

[2] Glaeske G, Muth L. Zwischen Chancen und Risiken: Fünf Jahre Versorgung mit Cannabinoid-basierten Arzneimitteln. Deutsche Apotheker Zeitung Nr. 10, 2022

[3] Schüller T. Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses – Medizinalcannabis: Künftig nur noch in Ausnahmefällen? DAZonline 2022, News vom 18. Januar 2023

[4] Ziegler AS (Hrsg.) Cannabis – Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 2022

[5] Dr. Reddy’s Laboratories schließt endgültige Vereinbarung zur Übernahme des deutschen medizinischen Cannabisunternehmens Nimbus Health. Businesswire 2022, News vom 3. Februar 2022

[6] Platzmann A. Quo vadis cannabinoidbasierte Fertigarzneimittel? Status Quo und Perspektiven. Krautinvest 2022, Analyse vom 7. März.

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