Physikerin über Ansteckungsrisiko in Bus und Bahn: "Mindestens zwei der 3G, die man vermeiden sollte"

Höchstens 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen – so lautet der Zielwert für die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Tatsächlich ist Deutschland noch weit von dieser Zahl entfernt. Laut aktuellem Tagesbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) liegt die sogenannte Sieben-Tages-Inzidenz derzeit bei 139 Fällen. Das ist zwar ein deutliches Minus im Vergleich zur Vorweihnachtszeit, in der die Werte um 200 pendelten. Allerdings wurde über die Feiertage und zwischen den Jahren weniger getestet und gemeldet. Unklar ist daher, wie aussagekräftig die aktuellen Werte sind. Sorgen bereiten auch die Virus-Mutationen aus Großbritannien und Süd-Afrika: Sie könnten die Fallzahlen erneut in die Höhe treiben, so die Befürchtung.

Corona-Mutationen


Die Infektions-Zahlen sinken nicht wirklich – welche Rolle das mutierte Virus dabei spielt

Am kommenden Dienstag wollen sich Bund und Länder erneut treffen, um über weitere Maßnahmen in der Pandemie zu beraten. Die Hoffnung auf zeitnahe Lockerungen dürfte sich angesichts der kritischen Infektionslage zerschlagen, stattdessen stehen weitere Verschärfungen im Raum. Einzelne Maßnahmen wie eine Verpflichtung zum Home-Office oder eine FFP2-Maskenpflicht werden seit Tagen in der Öffentlichkeit diskutiert. Auch der öffentliche Nahverkehr – Busse, Bahnen und Straßenbahnen – steht im Fokus. Inzwischen widersprach die Bundesregierung jedoch ersten Berichten, der öffentliche Nahverkehr könnte womöglich eingestellt werden. Doch: Wie effektiv wäre eine solche Maßnahme überhaupt?

Ansteckungsrisiko in Bussen und Bahnen

Klar ist: Die Maßnahme würde all jene besonders hart treffen, die weitere Strecken zu ihrem Arbeitsort zurücklegen müssen und kein Auto haben. Eine Art "Zwangs-Home-Office" wäre die Folge. Der Bahn-Lobbyverband Allianz pro Schiene kritisierte die Idee: Pflegepersonal, Altenpfleger und Verkäufer müssten schließlich auch zur Arbeit kommen, so die Argumentation.

Die Max-Planck-Physikerin Viola Priesemann äußerte sich in einem Twitter-Thread zu der ÖPNV-Diskussion. Priesemann forscht unter anderem zu den Effekten von Eindämmungsmaßnahmen und erstellt Modelle über die Ausbreitung des Coronavirus. "Wir wissen fast nichts über Ansteckung im ÖPNV", stellt Priesemann zunächst fest. Der ÖPNV habe aber "mindestens zwei der 3G, die man vermeiden sollte. Geschlossene Räume und Gedränge."

Das dritte G sind Gespräche. Das Risiko von Ansteckungen ist demnach besonders groß, wenn alle drei "G" zusammenkommen. "Es gibt also ein Ansteckungsrisiko. Es ist nur unklar, wie hoch es genau ist", so Priesemann.

Sollte man den ÖPNV schließen? Diese Idee hält die Expertin für "nicht sinnvoll und nicht praktikabel". Stattdessen rät sie zu einem umfassenderen Blick. "Wenn die Schulen geschlossen sind, und wenn gleichzeitig viele Menschen im Home-Office arbeiten, DANN wird gleichzeitig der ÖPNV entlastet. Weniger Menschen im ÖPNV zur Rush-Hour hilft all denen, die nicht Home-Office machen können."

Maßnahmen verstärken sich gegenseitig

Das Beispiel zeige, dass viele Maßnahmen voneinander abhingen und sich sogar gegenseitig verstärkten. "In diesem Fall: Zu Hause bleiben vermeidet auch das Gedränge in Bussen und Bahnen." In einem Lockdown sei es daher "besser", alle Maßnahmen, die möglich seien, gleichzeitig zu machen, "damit die Zahlen schnell sinken, und man schneller wieder (moderat) lockern kann", so Priesemann. Außerdem sollte auf eine gute Durchlüftung geachtet und, wo möglich, mehr Busse und Bahnen eingesetzt werden.

Die Physikerin spricht sich seit längerem für einen vergleichsweise strengen Lockdown aus, mit dem die Corona-Zahlen schnell gedrückt werden sollen. "Es bringt nichts, eine halbe Strategie zu fahren. Halbe Maßnahmen verpuffen einfach oder sorgen nur dafür, dass das Wachstum sich verlangsamt", sagte Priesemann bereits im Oktober im Gespräch mit dem stern. "Das ist in etwa so, als würde man versuchen, ein großes, unkontrolliertes Feuer mit ein paar Eimern Wasser zu löschen."

Anfang November ging Deutschland in eine Art Teil-Lockdown. Zunächst schienen die Corona-Zahlen für eine Weile zu stagnieren, danach stiegen sie wieder. Bund und Länder verschärften die Maßnahmen daraufhin erneut. Unter anderem die Anwesenheitspflicht in Schulen ist seitdem aufgehoben. Eltern werden gebeten, ihre Kinder zu Hause zu lassen. Die erhoffte Wirkung – das schnelle und beständige Absinken der Fallzahlen – ist bislang jedoch ausgeblieben.

Quellen: RKI / Twitter

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