Was traumatisierte Kinder brauchen
Was der kleine, deutsche Junge auf Teneriffa erlebt hat, ist in seinem Ausmaß kaum fassbar. Mehrere Stunden irrte er über die fremde Insel, bis ihn Passanten fanden, weinend und unter Schock. Anschließend berichtete er der Polizei, dass sein Vater seine Mutter und seinen Bruder attackiert habe. Er sei in letzter Minute entkommen.
Die genauen Umstände der Tat müssen noch ermittelt werden, der Vater wurde festgenommen. Fest aber steht, dass die Polizei in einer Höhle die Leichen der Mutter und des älteren Bruders gefunden hat. Aktuell wird der hinterbliebene Junge, dessen Alter die Behörden vorerst mit „sechs bis sieben“ angeben, von Sozialarbeitern und Psychologen betreut.
Die Entfernung zur Heimat birgt eine große Herausforderung bei der Versorgung des Kindes. Um die Psyche von Kindern nach extrem belastenden Erfahrungen zu schützen, sei eine vertraute Umgebung besonders wichtig, sagt die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, Isabella Heuser. „Bestenfalls sollte das bei jemandem sein, den das akut traumatisierte Kind gut kennt, wie zum Beispiel Großeltern.“
Kinder könnten je nach Alter auch selbst darüber mit entscheiden, zu wem sie vorerst kommen, sagte Heuser. Hauptsache sei, dass sie sich sicher und gut aufgehoben fühlten. Ziel ist so, einem Vertrauensverlust zu Menschen und der Welt entgegenzuwirken. Bei dem Jungen hatte es zunächst geheißen, die Großeltern oder eine Tante würden auf die Insel kommen, um sich um das Kind zu kümmern.
Das Kind nicht zum Erzählen drängen
Wichtig ist auch, den Kindern bei Gesprächen Zeit zu lassen, statt gezielt auf das Trauma einzugehen oder nachzubohren, was genau geschah. „In der Regel wartet man ab, was das Kind von selbst erzählt“, so Heuser. Polizeipsychologen seien dahingehend geschult – aber natürlich spiele bei der Polizei oft auch Zeitdruck eine Rolle. Generell sei es individuell verschieden, wann Kinder zu erzählen beginnen und wie lange ein akutes Trauma anhalte, sagte die Expertin.
Zu akuten Traumata kommt es unter anderem, wenn wie bei dem Jungen das eigene Leben bedroht wird. Betroffene seien dann wie im Schock, wie in einer anderen Welt, erstarrt oder auch völlig aufgewühlt, sagt Heuser. Bei Kindern könne dieser Zustand je nach Alter und je nach Fähigkeit, das Geschehene zu begreifen, stärker ausgeprägt sein: „Sie weinen, können sich zum Beispiel kaum artikulieren oder den eigenen Namen nennen, wenn man danach fragt“, erklärt Heuser.
Studien zeigen, dass Kinder nach dem Verlust eines Elternteils durch einen anderen Elternteil oft sehr lange unter der Belastung und Folgeerkrankungen leiden. Auch längere Zeit nach dem Erlebnis können sich noch Beschwerden entwickeln, etwa in Form wiederkehrender Erinnerungen, Alpträume und Ängste. Häufig erleben die Kinder zudem schon vor der Tat Gewalt unter den Eltern oder gegen sich selbst, wie eine Untersuchung im Jahr 2017 ergab.
Studie mit anderen Betroffenen: Entwicklungsstörungen
Für die Studie erfassten Forscher in den Niederlanden 137 Fälle, bei denen ein Elternteil vom Partner getötet wurde. 256 Kinder blieben zurück, im Schnitt waren sie zum Zeitpunkt der Tat 7,4 Jahre alt. Ein Großteil der Kinder (59 Prozent) war anwesend, als die Tat stattfand. Meist litten die Betroffenen unter starken Entwicklungsstörungen und psychischen Belastungen, berichteten die Forscher im Fachmagazin „PLoS One“.
Von den Kindern, zu denen entsprechende Informationen vorlagen, wurden zudem fast 70 Prozent schon vor der Tat selbst Opfer von Gewalt in der Familie. Bei weiteren 16 Prozent halten die Wissenschaftler dies für wahrscheinlich. Es sei wichtig, mit den Kindern nicht nur die akuten Erlebnisse aufzuarbeiten, sondern auch Gewalterfahrungen aus der Vergangenheit zu berücksichtigen, forderten die Forscher.
Der Umgang mit betroffenen Kindern ist auch für Fachleute eine große Herausforderung. „Fragt man an solchem Fallgeschehen beteiligte Fachleute, auch Jahre nach Beendigung der sich anschließenden Hilfen, so ist die außerordentliche Verantwortung, unter erheblichem Zeit- und Handlungsdruck Entscheidungen zu treffen, deutlich spürbar“, heißt es in dem Buch der damaligen Leiterin des Stuttgarter Jugendamts , Susanne Heynen.
Die Herausforderung sei, in einer für die Kinder existenziellen Krise gute Lösungen zu finden obwohl – aufgrund der Seltenheit der Ereignisse – zumeist keine Erfahrungen oder Arbeitsroutinen vorliegen. Für das Buch sprachen Heynen und eine Kollegin mit 14 Erwachsenen, bei denen im Kindesalter ein Elternteil den anderen getötet hatte. Oft war die Betreuung und Begleitung der Kinder nicht ausreichend, die Tat wurde tabuisiert, es fehlten Abschiedsrituale und die Kinder wurden bei einer Kontaktaufnahme der Kinder mit dem verbliebenen Elternteil allein gelassen.
„Die Kinder brauchen eigentlich über viele Jahre hinweg eine umfassende Unterstützung. Sie haben ja beide Elternteile verloren. Meist wurde die Mutter ermordet und der Vater inhaftiert“, sagte Heynen in einem Interview 2017.
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