Total-Isolation in Krefelder Pflegeheim: „Sie haben meinen Vater lebendig begraben“
Mit Corona verbinden sich Schicksale. Menschen bangen um ihre Existenz oder wissen nicht, wie sie Arbeit und Kinderbetreuung miteinander verbinden. Aber es geht auch um Pflegebedürftige, die nicht verstehen, warum ein Heim abgeriegelt wird. FOCUS Online zeichnet einen Fall in Krefeld nach.
Franz Reiser* lebt mit seiner Frau Hilda seit Jahrzehnten in einem Einfamilienhaus in der Nähe von Krefeld. Seit 2018 ist der über 80-Jährige dement, sein Sprachvermögen ist ebenso gestört wie sein Tag- und Nachtrhythmus. Pflegestufe 3 wird ihm zugebilligt.
Im August 2018 ist Ehefrau Hilda aufgrund der psychischen und körperlichen Belastung nicht mehr in der Lage, die zeit- und kräftezehrende Betreuung zu übernehmen. Am Ende ihrer Kräfte wird sie selber in die Klinik eingewiesen. Mit Folgen für Franz: Er muss kurzfristig für acht Wochen in eine Kurzzeitbetreuung in ein Krefelder Heim. „Dort kam er gar nicht gut zurecht“, erzählt sein Sohn Stefan. „Obwohl ich ihn täglich dort besucht habe, wollte er immer nur nach Hause“, sagt der 50-Jährige.
Im September 2018 wird der Wunsch von Franz erhört, er darf wieder heim. Da seine Ehefrau nicht mehr in der Lage ist, ihn zu versorgen, steht von nun an rund um die Uhr eine Pflegekraft bereit.
Ein Jahr später
Seit einem Jahr wird Vater Reiser zu Hause betreut. Dann passiert etwas, was in dem Alter häufiger vorkommt: Wegen eines Infekts wird Franz ins Krankenhaus eingeliefert, er wird zum Pflegefall und muss ins Heim. Die Plätze in Krefeld sind rar, durch Kontakt zu einem örtlichen Pflegeheim wird die Aufnahme in eine vollstationäre Pflege vorbereitet. Franz ist zäh, er erholt sich auch dank der intensiven Betreuung durch Angehörige und kann sogar kurze Strecken wieder laufen. Die Demenz schreitet hingegen voran, Pflegegrad 5 wird beantragt.
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„Seinen 84. Geburtstag haben wir im Heim gefeiert“, sagt Stefan. „Vater hat akzeptiert, nicht mehr zu Hause wohnen zu können und selbst, wenn wir mit dem Rollstuhl am Haus vorbeigefahren sind, hatte er nicht mehr den Drang, dort bleiben zu wollen.“ Der Sohn besucht seinen Vater täglich, denn die Mutter ist dazu gesundheitlich nicht mehr in der Lage, sein Bruder wohnt mehr als 400 Kilometer entfernt. Franz geht es den Umständen entsprechend gut, nur die Sturzgefahr ist latent. Doch dazu später mehr.
„Wie lebendig begraben“ – Corona-Lockdown im Pflegeheim
Anfang März wird seine Frau in die Reha nach Bad Meinberg gefahren, wenige Tage später erfolgt der Lockdown in Nordrhein-Westfalen. Am Freitag, 13. März stehen Stefan und seine Lebensgefährtin Maria wie jeden Tag vor der Tür des Heims, um den Vater zu besuchen. „An der Tür empfängt uns die Heimleitung und teilt uns mit, dass wir ihn nicht mehr besuchen dürfen“, erzählt Stefan.
Die Regeln während der ersten Corona-Akutphase waren strikt, viele konnten ihre Angehörige in Pflegeheimen nicht besuchen. Wie haben Sie das erlebt? Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen an [email protected].
Er ist verzweifelt. „Wie sollen wir einem dementen Menschen erklären, dass wir wegen Corona nicht mehr zu ihm können? Selbst wenn er es versteht, hat er es am nächsten Tag wieder vergessen!“ Als sie das Heim verlassen, fühlen sie sich elend und hilflos. „Das können sie nicht machen“, regt er sich gegenüber der Heimleitung auf. „Sie begraben meinen Vater lebendig.“
Stefan ist ein Kämpfer, er will seinem Vater helfen. Noch in der Nacht schreibt er eine E-Mail an NRW-Ministerpräsident Laschet, dass man die alten Menschen nicht einfach wegschließen kann, auch wenn man sie vor Covid-19 schützen will: „Ich habe ihm geschrieben, dass mein Vater nicht an Corona sterben würde, sondern durch die Begleitumstände, an Vereinsamung. Eine Antwort habe ich aber nie erhalten.“
Der 14. März 2020 ist der erste Tag seit langer Zeit, an dem er seinen Vater nicht sieht.
Ein kleiner Lichtblick
Sonntag dann ein Lichtblick: Der NRW-Erlass sieht vor, dass eine Person pro Tag für eine Stunde im Heim erlaubt ist. Mit dieser Regelung kann Stefan leben, er fährt ins Heim zu seinem Vater. „Das ist doch Blödsinn, dass keiner ins Heim darf“, lautete die verächtliche Antwort von Franz, als sein Sohn ihm zu erklären versucht, warum er ihn nur noch alleine für kurze Zeit besuchen kann. Was soll man von einem dementen Menschen mit Pflegegrad 5 auch erwarten.
Was nun folgt, sind bürokratische Schritte, die für Angehörige schwer zu verstehen sind. Am Montag bekommt Stefan einen Anruf der Pflegerin, dass er nur noch mit Schutzkleidung zu seinem Vater und ihn ausschließlich auf dem Zimmer besuchen darf. „Ich habe mir Mundschutz und Handschuhe besorgt, das war alles noch kein Problem“, berichtet Stefan.
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Am Dienstag durfte er seinen Vater nur noch zwischen 15 und 16 Uhr besuchen. „Macht Corona in dieser Zeit Pause?“, fragt Stefan ironisch, aber auch hier fügt er sich den Anweisungen. Am Mittwoch muss er auch noch einen Kittel tragen, die Uhrzeit bleibt gleich.
Kein Besuch mehr erlaubt – Pflegeheim wird zum Gefängnis
Das lähmende Entsetzen stellt sich am Donnerstag, den 19. März ein. Die Pflegerin erzählt, dass kein Besuch im Zimmer mehr erlaubt sei. Das Heim wird zum Gefängnis. Stefan ist sauer: „Das Paradoxe im Lande ist doch, die echten „Knackis“ werden aus den Gefängnissen wegen Corona freigelassen und die alten Menschen werden weggesperrt.“ Er kann es nicht fassen und hat keine Ahnung, wie er seinem Vater noch ein menschenwürdiges Leben ermöglichen kann.
Täglich geht er mit Maria zum Heim, der Vater wird zum Balkon auf der zweiten Etage oder an das Fenster des Gemeinschaftsraumes geschoben. Es sind nur kurze Momente, die ihren Zweck nicht erfüllen. Es ist kalt, Franz friert und möchte wieder rein – mit seinem Sohn ins Warme.
„Kommt, kommt, hat er gesagt und mit den Armen gewunken“, erinnert sich Stefan mit Tränen in den Augen an diese Momente, die kaum zu ertragen sind.
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Die Angst vor Corona wird Anfang April Realität, aber anders als gedacht. Die Kur von Franz‘ Frau Hilda erfährt wegen Covid-19 und 110 Infizierten ein jähes Ende. Nach einer Woche in Quarantäne im Kurzimmer kann sie nach einem negativen Test aus der Kur abgeholt werden. Danach muss sie sich noch 14 Tage in Quarantäne im Haus aufhalten. So lange lebt ihr Mann aber nicht mehr.
Zurück zu Franz: Das Wetter wird besser, er wird im Rollstuhl in den Vorgarten gefahren. „Bis auf drei Meter Entfernung durften wir uns über den Gartenzaun mit ihm ein paar Minuten austauschen“, sagt Stefan. Franz sieht schlecht aus, er vermisst seine Familie und hat stark abgebaut. Der Gesundheitszustand verschlechtert sich nun beinahe stündlich. Beim nächsten Treffen sitzt er nur noch apathisch im Rollstuhl. Lediglich zum Abschied erwacht er ein wenig und winkt freundlich.
Der Oberschenkelhalsbruch ist der Anfang vom Ende
Am 8. April stürzt Franz und bricht sich den Oberschenkelhals. Nach Rücksprache mit der Familie und gestützt durch eine Patientenverfügung soll keine OP durchgeführt werden, sondern lediglich palliativ behandelt werden. Der Arzt bittet Stefan um eine Unterschrift, er fährt ins Krankenhaus, um diese zu leisten – und darf dann zu seinem Vater rein.
Die Tage darauf sind schmerzlich für die Familie. Der Vater stellt das Essen und Trinken ein, Palliativärztin und Hausarzt versuchen, die Schmerzen zu lindern. Am 11. April naht das Ende, Sterbende dürfen besucht werden – eine Person am Tag. Stefans Bruder und ein Seelsorger werden informiert. Die Mutter ist nach wie vor in Quarantäne.
Stefans Bruder Carsten kommt und verbringt den Tag bei seinem Vater, tags darauf der Seelsorger, ein Freund der Familie. Dann der Dienstag. Der 14. April wird der letzte Tag sein, an dem Franz Reiser lebt. Sein Sohn verbringt den ganzen Tag alleine mit seinem Vater. Er liegt im Sterben.
Der Sterbeprozess ist im Gange
Ab und an kommen eine Schwester oder ein Pfleger und schauen nach dem Rechten. Sie machen einen guten Job, insbesondere in der letzten Woche in der Sterbephase des Vaters. Stefan hört Musik und erzählt mit ihm. Franz atmet regelmäßig und sehr schnell.
Stefans Lebensgefährtin kommt vorbei, darf sich aber nicht verabschieden. Sie weint vor der Tür, dann hat der Pfleger ein Erbarmen und lässt sie rein. Als sie ins Zimmer tritt, verändert sich zeitgleich die Atemfrequenz von Franz. Sie wird langsamer und er tätigt seinen letzten Atemzug. Es ist 18 Uhr, Franz Reiser ist friedlich eingeschlafen.
Neun Tage später findet die Beerdigung unter Corona–Bedingungen statt: eine Erdbestattung. Maximal 15 Teilnehmer sind erlaubt, keine Messe, keine Kapelle. Nur vier statt der üblichen sechs Sargträger. Die Folge: Kein Herablassen des Sarges möglich, die Aufgabe übernahm der Bagger im Anschluss – und auch der Beerdigungskaffee fällt aus.
„Aber trotz der ganzen Umstände war es durch den befreundeten Pfarrer, der meinen Vater über 25 Jahre im Presbyterium kannte, eine würdige Verabschiedung“, sagt Stefan mit leiser Stimme. Und sagt dann etwas, was nachdenklich macht: „Ich frage mich, wie viele Menschen nicht an Corona, sondern an den Begleitumständen gestorben sind.“
* Die Namen wurden geändert.
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