Schmerzmediziner erklärt, warum er Ibuprofen für gefährlicher als Morphium hält

Palliativmediziner und Schmerzexperte Sven Gottschling will, dass es Schmerztabletten nur noch auf Rezept gibt und dass Ärzte Schmerzen gezielter behandeln, vor allem, wenn sie chronisch sind. Im Interview mit FOCUS Online spricht er über gefährliche Nebenwirkungen von Mitteln wie Ibuprofen und sagt er, welche Alternativen er sieht.

Sven Gottschling ist leitender Arzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlands. In seinem Buch „Schmerz los werden: Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft“ erklärt er das Phänomen Schmerz in allen Facetten, berichtet aus zehn Jahren Erfahrung als Facharzt in dieser Disziplin und klagt an, dass die Behandlung von Schmerzen in Deutschland völlig falsch läuft. Im Interview mit FOCUS Online erklärt der Arzt, was im Argen liegt und wie es besser laufen könnte.

privat Sven Gottschling, Schmerzmediziner und Buchautor von „Schmerz los werden“ FOCUS Online: In Ihrem Buch „Schmerz los werden“ ledern Sie ordentlich gegen die üblichen Schmerzmittel. Wollen Sie, dass wir Kopfweh oder Rückenschmerzen einfach aushalten?

Sven Gottschling: Nein, überhaupt nicht. Für einen akuten Schmerz darf jeder mal zur Schmerztablette greifen. Das Problem ist, dass die beliebten frei verkäuflichen Mittel oft falsch angewendet und unterschätzt werden.

FOCUS Online: Bleiben wir mal bei dem Punkt „unterschätzt“. Was meinen Sie damit?

Sven Gottschling: Viele Patienten schlucken ASS, Ibuprofen oder Diclofenac so unbekümmert wie Smarties – viel zu oft und viel zu lang. Und keiner denkt an die langfristigen Schäden. Es gibt Leute, die nehmen jahrzehntelang Ibuprofen gegen chronische Gelenkschmerzen. Sie riskieren Magen- und Darmblutungen, Nierenschäden und haben ein hohes Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall.

Mehr Tote durch Schmerztabletten als durch Verkehrsunfälle

FOCUS Online: Übertreiben Sie jetzt nicht?

Sven Gottschling: Vorsichtig geschätzt sterben bei uns jedes Jahr rund 4000 Menschen durch innere Blutungen infolge von Schmerzmittelgebrauch. Das sind mehr Todesopfer als durch Verkehrsunfälle.

Noch ein Beispiel: Paracetamol. Man weiß heute, dass der Wirkstoff Fieber senkt, aber nicht gegen Schmerzen hilft. Da es aber das einzige „Schmerz“mittel ist, das Schwangere nehmen dürfen, setzen sie es bei Kopfschmerzen ein. Das wirkt dann höchstens im Placebobereich, hat aber negative Effekte auf das Ungeborene: höheres Risiko für ADHS, Asthma, Allergien und schädlich für die Entwicklung der männlichen Sexualorgane.

 

FOCUS Online: Wenn diese Wirkstoffe so gefährlich sind, warum sind sie dann frei verkäuflich oder werden in höheren Dosen von Ärzten erfahrungsgemäß problemlos verschrieben?

Sven Gottschling: Wir Schmerzmediziner fordern schon lang, dass die Standard-Schmerzmittel nicht frei verkäuflich sein dürften. Dann könnte man die missbräuchliche Anwendung eindämmen, und es würden nicht mehr jedes Jahr 150 Tonnen Ibuprofen produziert werden. Und was die Ärzte angeht, haben leider nur wenige wirklich Ahnung von Schmerztherapie. Spezialisierte Schmerzmediziner gibt es in Deutschland gerade einmal 1000.

Ärzte kümmern sich zu wenig um Schmerzbehandlung

FOCUS Online: Was müssten die Ärzte denn besser machen?

Sven Gottschling: Sie müssten sich mit dem Thema Schmerz beschäftigen, einem komplexen Geschehen, bei dem die Psyche ihres Patienten eine ganz wichtige Rolle spielt. Und sie müssten sich mit wirksamer Schmerzbekämpfung auseinandersetzen. Die meisten Ärzte und Patienten haben eine Heidenangst vor Opioiden gegen Schmerzen. Ich plädiere dagegen für einen viel häufigeren Einsatz von Morphin und ähnlichen stark wirkenden Schmerzstillern. Morphin ist für Patienten auf Dauer weniger gefährlich als Ibuprofen oder Diclofenac. Ein Opioid können chronisch Kranke ein Leben lang ohne gesundheitliche Folgen nehmen, die Schmerztabletten eher nicht.

FOCUS Online: Und was ist mit der Drogenabhängigkeit?

Von den sechs Kriterien für Abhängigkeit trifft auf Schmerzpatienten nur eines zu, nämlich Entzugserscheinungen beim prompten Absetzen des Wirkstoffs. Aber Kontrollverlust, das Bedürfnis nach höheren Dosen oder die Unfähigkeit, Alltagsaufgaben zu erfüllen, habe ich nie beobachtet. Voraussetzung für eine Schmerzbehandlung mit Morphin-Präparaten ist allerdings eine gute Therapiesteuerung durch einen erfahrenen Arzt. 

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FOCUS Online: Aber es kann doch nicht jeder Morphin statt Aspirin im Medizinschrank haben!

Sven Gottschling: Natürlich nicht. Und bei akuten Schmerzen darf man auch zu ASS oder Ibuprofen greifen. Bei einem Spannungskopfschmerz oder einer Sportverletzung zum Beispiel kann man schon einmal ein paar Tage klotzen mit einer frühen und hohen Dosis, aber nicht länger als drei bis sieben Tage. Wer regelmäßig an mehr als fünf Tagen Medikamente gegen Schmerzen braucht, sollte weg von den frei verkäuflichen Mitteln. Dauern Schmerzen länger oder drohen chronisch zu werden, darf man durchaus auch auf Opioide schauen. Das ist natürlich dann definitiv kein Fall für Selbstmedikation mehr. 

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