Es war doch nur eine Mandel-OP
Nach zwei eitrigen Entzündungen reicht es der Frau und ihren Ärzten. Die Mandeln müssen raus. Es ist bereits die dritte Operation, der sich die 32-jährige Frisörin in Großbritannien unterzieht. Ihr Kind haben Ärzte per Kaiserschnitt zur Welt gebracht, außerdem hat sich die Frau die Brüste vergrößern lassen. Bislang gab es nie Komplikationen.
Auch dieses Mal verläuft alles gut. Zwar rutscht die Frau mit ihrem Standardeingriff ganz ans Ende der OP-Liste des Tages, die Operation aber glückt. Die Ärzte schieben die Patientin in den Aufwachraum, dann jedoch endet die Routine. Einer Pflegerin fällt auf, dass die Frau ihre Augen nach oben rollt. Sofort ruft sie Unterstützung.
Verdrehte Augen sind ein Alarmzeichen für Probleme im Gehirn, schreiben die Mediziner vom University Hospital Coventry & Warwickshire in ihrem Fallbericht im „Journal of Surgical Case Reports“ . Verstopft ein Gerinnsel ein Blutgefäß? Hat die Frau einen epileptischen Anfall? Oder ist ein Bereich des Gehirns aus einem anderen Grund nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt?
Als die Mediziner die mittlerweile wache Frau befragen, hat sie leichte Sprachschwierigkeiten. Ihr linker Arm und ihr linkes Bein fühlten sich schwer an, erzählt sie. Bei Muskelfunktionstests erreicht die 32-Jährige 75 Prozent ihrer Kraft. Außerdem sind die Muskeln auf ihrer linken Gesichtsseite etwas schlaff, sie reagiert empfindlich auf Licht.
CT, MRT und EEG
Die 32-Jährige hat in der Vergangenheit geraucht, aufgrund von Depressionen und einer Angststörung nimmt sie Citalopram, eines der am häufigsten verordneten Psychopharmaka. Während der Operation haben die Mediziner ihr außerdem einen Arznei-Cocktail verabreicht, von Propofol zum Einleiten der Narkose bis hin zu Paracetamol und Diclofenac gegen die Schmerzen.
Das alleine kann die verdrehten Augen jedoch nicht erklären. Die Mediziner starten mehrere Notfalluntersuchungen. Sie betrachten ihren Kopf im CT, um Blutungen aufzuspüren, fertigen zusätzlich MRT-Bilder an, da diese die Weichteile im Gehirn noch präziser darstellen. Auf allen Aufnahmen wirkt das Gehirn gesund, genauso wie bei einem EEG und einer Blutuntersuchung. Verstopfte Gefäße oder einen epileptischen Anfall können die Ärzte ausschließen.
Am nächsten Tag berichtet die Frau zusätzlich von starken Kopfschmerzen, die Gesichtsmuskulatur aber hat sich erholt. Bei weiteren Tests schwankt die Kraft der Frau erheblich. Da die Mediziner keine körperliche Ursache finden können, erwägen sie ein sogenanntes pseudoneurologisches Syndrom. Dabei treten neurologische Beschwerden auf, für die es keine körperliche Erklärung gibt. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass die Beschwerden psychisch bedingt sind.
Mehrere Attacken im Monat
Nach zwei Nächten in der Klinik entlassen die Ärzte ihre Patientin nach Hause, die Beschwerden sind fast verschwunden. Sie laden die 32-Jährige jedoch zu einer Nachuntersuchung in der Neurologie ein. Bei dem Gespräch dämmert den Medizinern auf einmal, was der Frau tatsächlich fehlt. Sie erzählt, dass sie fast wöchentlich unter Kopfschmerzen leidet, die rund zwölf Stunden anhalten und sich auf die linke, vordere Kopfseite sowie den Bereich rund ums linke Auge konzentrieren.
Während der Zeit sei ihr häufig übel, sie fühle sich müde, schwindelig und reagiere empfindlich auf Licht, erzählt die Frau. Im Monat vor der Operation hatte sie außerdem bei drei Attacken das Gefühl, dass ihre Kraft auf der linken Körperseite schwindet. Beim ersten Mal ging die 32-Jährige noch in die Notaufnahme, wurde aber zu ihrem Hausarzt geschickt, nachdem CT-Bilder des Kopfes normal ausfielen. Eine Diagnose steht noch aus.
Aus den Schilderungen der Frau schließen die Klinikärzte auf eine extrem seltene Form der Migräne, die nur rund einen von 10.000 Menschen betrifft: die sogenannte hemiplegische Migräne. Möglicherweise habe der Stress, die Angst, das grelle Licht oder die Unterzuckerung den Anfall nach der OP ausgelöst, schreiben die Mediziner. Bei dieser Migräneform zählt Muskelschwäche zu den vorübergehenden neurologischen Beschwerden, genauso wie Seh- und Sprachprobleme. Betroffene entwickeln die ersten Attacken typischerweise im Jugendalter.
Mit der Diagnose können die Ärzte der Frau auch eine mögliche Behandlung aufzeigen. Sie verschreiben ihr das Migränemedikament Topiramat, das Migräneanfällen vorbeugen soll. Das Mittel schlägt allerdings nicht bei allen Betroffenen an – wie es der Patientin damit ergeht, schildern die Mediziner nicht.
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