Haben Chance vergeben: Top-Forscher glauben, Lockerungen kamen zu früh

Bund und Länder haben am vergangenen Mittwoch weitreichende Lockerungen beschlossen. Aber kamen diese zu früh? Experten, die mathematische Modelle zur Ausbreitung des Virus entwickelt haben, glauben, dass wir kurz davor sind, die Epidemie unter Kontrolle zu bringen – das aber auch noch verspielen können.

Bund und Länder haben am vergangenen Mittwoch entschieden, die Lockdown-Maßnahmen weiter zu lösen. Kontaktbeschränkungen bestehen zwar mit geringfügigen Lockerungen weiterhin, aber Geschäfte dürfen bald auch über 800 Quadratmeter wieder öffnen, ebenso gibt es Öffnungspläne für Tourismus und Gastronomie, für Schulen und Freizeitsport.

Allerdings bleibt eine Begrenzung wichtig: Die Anzahl Neuinfizierter darf innerhalb von sieben Tagen 50 pro 100.000 Einwohner nicht überschreiten – sonst drohen regional wieder weitreichende Maßnahmen, um die Infektionen einzudämmen.

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Experten, die sich mit der Modellierung des Corona-Verlaufs beschäftigen, sehen diese Lockerungen kritisch. Aus Sicht des Infektionsforschers Michael Meyer-Hermann haben Bund und Länder zu früh weitreichende Lockerungen beschlossen. In den vergangenen Tagen sei die Zahl der Neuinfektionen wieder gestiegen, erläuterte der Leiter der Abteilung System-Immunologie am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung am Donnerstag in einem Pressebriefing des Science Media Centers.

Chance vertan, zu so niedriger Zahlen zu kommen, dass Kontaktverfolgung möglich wäre

Dieser Anstieg korreliere zeitlich mit der vorherigen Öffnung der Geschäfte. Ob es auch der Grund sei, sei unklar, machte Meyer-Hermann deutlich. Um zudem eventuelle Verzögerungen bei der Datenübermittlung abzuwarten, wäre es aus seiner Sicht besser gewesen, erst Ende dieser Woche oder gar kommende Woche über Lockerungen der Anti-Pandemie-Maßnahmen zu beraten.

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„Ich weiß nicht, wie schlimm das ist“, sagte Meyer-Hermann. Aus seiner Sicht haben wir jedoch „wahrscheinlich eine Chance vergeben", in relativ kurzer Zeit – bis Mitte oder Ende Mai – zu so niedrigen Zahlen zu kommen, dass wir gut hätten aufmachen können.

Viola Priesemann, Leiterin der Forschungsgruppe Theorie neuronaler Systeme am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen sieht das ähnlich. Sie begrüßte es zwar, den Regionen Verantwortung zu geben. Das könne aber nur funktionieren, wenn die Mobilität zwischen den Regionen gering bleibe. Dafür müssten sie die Kontrolle darüber haben, ob das Virus eingeschleppt wird, sagte Priesemann. Ansonsten bekomme ein Landkreis, der sich viel Mühe gebe, mitunter die Folgen zu spüren, wenn im Nachbar-Landkreis die Infektionen hoch bleiben.

Im gestrigen Pressebriefing sagte die Max-Planck-Forscherin, dass der sinnvollste Wert, auf den man sich konzentrieren könnte, nicht 50 oder 30 oder 100 Neuinfektionen pro 100.000 Menschen seien, "sondern wirklich die Null", um eine stabile Situation zu bekommen. "Diese Obergrenze, die jetzt definiert worden ist, ist sicherlich hilfreich auf diesem Weg. Aber ich denke, dass jeder sich ganz genau klar werden sollte darüber, ob das Ziel ist, chronisch mit einer mittleren Zahl von Neuinfektionen weiterzumachen. Oder ob das Ziel sein sollte, wirklich Covid-19-frei zu werden", argumentiert Priesemann.

Nur in letzterem Fall könne man ohne Sorge wieder das gesellschaftliche Leben hochfahren. Das sei auch dann sinnvoll, wenn man die Kollateralschäden betrachtet – zum Beispiel die wirtschaftlichen, meint Priesemann.

"Kurzfristig starke Unterdrückung richtet ökonomisch weniger Schaden an als dauerhafte Bremse"

Die Wissenschaftlerin, die nach eigenen Angaben hierzu auch mit Wirtschaftswissenschaftlern im Gespräch ist, argumentiert dabei mit einem Szenario der 90-Prozent-Ökonomie. "Was in China der Fall zu sein scheint, wenn man dem Economist und anderen Wissenschaftlern dort glaubt, ist, dass zwar alle Lockerungen wieder da sind – die Menschen können im Prinzip machen, was sie möchten – und sie tun es trotzdem nicht, weil sie kein Vertrauen haben."

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    Das sei ein Problem, denn man sei nach dem Lockdown nicht zurück bei normal, sondern vielleicht bei 90 Prozent, ist die Max-Planck-Wissenschaftlerin überzeugt. Es könnte langfristig zu einer geringeren Wirtschaftsleistung führen, wenn die Menschen nicht wieder volles Vertrauen hätten, dass das Virus im Griff sei – und sie daher nicht investieren wollen. Kürzere Einschränkungen der Wirtschaft seien weniger problematisch als Trendwenden. "Deswegen ist, glaube ich, eine ganz wichtige Sache, dass man die kurzfristigen und die langfristigen Schäden gegeneinander abwägt."

    "Es ist, glaube ich, ökonomisch relativ gut abschätzbar, dass eine kurzfristige starke Unterdrückung weniger Schaden anrichtet ökonomisch als eine dauerhafte Bremse", sagt auch der Helmholtz-Wissenschaftler Michael Mayer-Hermann.

    Erst Ende April hatten die vier großen Forschungsgesellschaften Max-Planck- und Fraunhofer-Gesellschaft sowie Helmholtz- und Leibniz-Gemeinschaft ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht. In einer Kurzfassung desselben machten sie klar: „Die Situation ist nicht stabil, selbst eine nur kleine Erhöhung der Reproduktionszahl würde uns zurück in eine Phase des exponentiellen Wachstums führen. Daher muss die Reproduktionszahl bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs unter 1 gehalten werden.“

    Trotzdem äußern sich die Experten auch ein wenig zuversichtlich. Es scheine, dass die Menschen im Laufe des Lockdowns noch vorsichtiger geworden seien und effektiv Ansteckung vermieden hätten. "Das stimmt mich insgesamt relativ optimistisch", sagt Priesemann.

    Modellierungen spielen wichtige Rolle, um Zusammenhänge besser zu verstehen

    Mayer-Hermann berechnet die Corona-Situation mithilfe eines agentenbasierten Modells. Dabei wird jedes Individuum abgebildet. Das Modell habe den Nachteil, sagt Meyer-Hermann, dass es damit schwierig ist, ganz Deutschland zu beschreiben. Es sei aber hervorragend geeignet, "um auf die Kreisebene zu gehen, wo wir dann vielleicht auf der Ebene von ein paar hunderttausend Agenten rechnen müssen."

    Das Team von Viola Priesemann am Max-Planck-Institut hat zwei Szenarien berechnet, wie sich das Coronavirus in den kommenden Wochen ausbreiten wird. Dabei können auch Effekte von Maßnahmen betrachtet werden.

    Modellierungen spielten eine wichtige Rolle, um die Zusammenhänge besser zu verstehen, ist Mirjam Kretschmar, Professorin der Universitätsmedizin Utrecht in den Niederlanden und wissenschaftliche Leiterin für mathematische Krankheitsmodellierung, überzeugt. Sie gibt aber auch zu bedenken: "Man muss aber auch sehen, dass alle Modelle ihre Beschränkungen haben und sich fragen, was dieser Schritt von der Modellrechnung zur Interpretation bedeutet."

    Ein sehr gutes Zeichen sei aber, dass die Modelle der Max-Planck- und Helmholtz-Wissenschaftler zu ähnlichen Ergebnissen geführt hätten. "Wenn man verschiedene Modelle hat, die zum ungefähr gleichen Ergebnis kommen, dann weiß man zumindest, dass man die wesentlichen Faktoren in den Modellen auch mit einbezogen hat und dass die Unterschiede zwischen den Modellen vielleicht weniger wichtig sind für die Beantwortung dieser Frage."

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