Alleinsein lernen: "Viele verplempern die Zeit allein eher, als sie zu genießen"

Sie haben ein Buch über das Alleinsein geschrieben. Ein Thema, das für Sie wie für viele Menschen anfangs eher negativ behaftet war. Warum ist das so?

Marie-Luise Ritter: Wir leben in einer sehr extrovertierten Gesellschaft, in der es normal ist, Dinge zusammen zu machen. Vor allem als Frau wird man deshalb schnell mal schief angeguckt, wenn man anfängt, Sachen allein zu unternehmen. Als Mann ist man schnell der sexy Junggeselle à la George Clooney. Frauen werden schnell in die Schublade der einsamen Katzenlady gesteckt. Es ist glaube ich erstmal komisch, das Alleinsein zu genießen, weil man von der Gesellschaft ein anderes Bild vermittelt bekommt.

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Also tun sich Männer mit dem Alleinsein leichter?

Im Gegenteil. Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich, dass es Männern oft viel schwerer fällt, allein zu sein, als Frauen. Das bestätigt auch eine der Studien, die ich im Buch zitiert habe. Sie brauchen scheinbar viel mehr diese Zugehörigkeit und das Gefühl der Nähe, als wir oder suchen zumindest gezielter danach. Es gibt ja eine Form von Zuneigung, die es in Männerfreundschaften nicht gibt, in Frauenfreundschaften aber schon. Frauen sprechen über ihre Gefühle und teilen sich oft offener mit – das haben Männer meistens nur innerhalb einer Liebesbeziehung in dem Ausmaß. Wenn sie die aber gerade nicht haben, dann fehlt ihnen was Elementares. Das ist zumindest meine Erfahrung.

Vertrauen in das Gute im Menschen

Und trotzdem genießen Single-Männer einen anderen Ruf, als Single-Frauen.

Genau. Wenn du mit 30 Jahren als Frau heutzutage Single bist, musst du dich super oft dafür rechtfertigen. Dabei kann das eine bewusste Entscheidung für einen gewissen Lebensstil sein und ist nicht automatisch ein Defizit. Das denken aber viele. Deshalb habe ich auch das Buch geschrieben – weil es mich genervt hat, mich immer rechtfertigen zu müssen.

Für was mussten Sie sich rechtfertigen?

Ich war letztes Jahr acht Wochen allein mit einem kleinen Rucksack in Südamerika unterwegs. Unter anderem war ich in El Salvador und bin da Vulkane hochgewandert und sowas. Ich habe in der Zeit jeden Tag Nachrichten auf Instagram bekommen, ob ich keine Angst hätte oder wie ich das als Frau allein mache auf Reisen. Es kamen hunderte solcher Nachrichten. Da wurde mir klar, dass das Alleinsein ein Thema ist, das scheinbar viele Menschen beschäftigt. Und dann habe ich angefangen, mich intensiv damit auseinanderzusetzen, wie ich eigentlich gelernt habe, Dinge allein zu machen.

El Salvador gehört zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Eine Frage drängt sich deshalb schon auf: Hatten Sie wirklich keine Angst?

Angst hatte ich eigentlich nie. Ich wusste zeitweise nicht, wohin mit mir, hatte große Langeweile und war ein bisschen verloren. Ich habe schon immer viel Urvertrauen und Selbstvertrauen in mir und vertraue auf meine Intuition, deshalb mache ich mir selbst in Situationen, in denen das vielleicht manchmal angebracht wäre, eigentlich keine Sorgen. Selbst in El Salvador kam es mir nicht gefährlich vor.

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Urvertrauen, Selbstvertrauen – und Vertrauen in das Gute in anderen Menschen?

Ich glaube fest daran, dass man Menschen immer vertrauen kann. Ganz egal, wo man ist, man kann einen Menschen immer um Hilfe bitten, nach dem Weg fragen oder ihm ein Lächeln abgewinnen. Ich bin so oft auf herzensgute Menschen getroffen, auch in den gruseligsten Gegenden der Welt.

Aber nicht jeder Mensch hat nur gute Absichten.

Das Wichtigste für mich ist dabei meine Intuition. Wie fühle ich mich in Gegenwart von anderen Menschen? Und wirklich nein zu sagen, wenn sich die Situation für mich nach einem Nein anfühlt.

Allein ist man nie wirklich allein

Sie sind allein nach Südamerika gereist, haben allein Konzerte besucht, sind allein ausgewandert. Was haben Sie dabei gelernt?

Was mich am meisten überrascht hat ist, dass man wenn man allein unterwegs ist, eigentlich viel weniger allein ist. Das klingt erstmal ein bisschen widersprüchlich. Aber es geht darum, mit sich selbst im Reinen zu sein und die Zeit allein genießen zu können. Dadurch entwickelt man automatisch, vor allem auf Reisen, eine offenere Grundhaltung – und lernt Menschen kennen, die man womöglich nicht getroffen hätte, wenn man sein Zuhause mitgenommen hätte. So nenne ich meine Freunde gerne. Man wird also allein offener für neue Begegnungen und ich glaube das ist das Schönste am Alleinsein: Jeder Mensch ist nur den Bruchteil einer Sekunde entfernt, man kann sich immer dazu entscheiden, eine neue Verbindung einzugehen, wenn man das möchte.

Diese Begeisterung für das Alleinsein hatten Sie nicht immer. Sie schreiben auch von Skepsis und Langeweile. Wie haben Sie das abgelegt?

Den Respekt vor dem Alleinsein habe ich ehrlich gesagt unfreiwillig abgelegt. Ich schreibe im Buch ja auch, dass ich vor einer geplanten Reise nach Schottland mit meinem damaligen Freund von ihm sitzengelassen wurde und dann allein geflogen bin. Das war hart für mich – aber ich denke, nur so lernt man, die Zeit mit sich selbst auszuhalten und irgendwann auch zu schätzen. Ich habe damals gemerkt, dass das Alleinsein gar nicht so schlimm ist, wie ich immer dachte. Klar war es blöd, verlassen zu werden. Aber ich habe gemerkt, dass ich auch allein gut zurechtkomme. Diese Selbstwirksamkeit und das Selbstvertrauen sind total wertvoll.

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Gibt es denn Aktivitäten, die Sie heute lieber allein machen als mit anderen zusammen?

Man darf die Zeit allein nicht mit der Zeit vergleichen, die man mit anderen verbringt. Es sind zwei unterschiedliche Arten von Erlebnissen. Wenn ich mit Freunden unterwegs bin, habe ich sehr viel Spaß und Austausch. So erlebe ich ein Konzert ganz anders, als wenn ich dort allein hingehe. Ich war zum Beispiel bei einem Gig von Florence and the Machine, weil ich davor zuletzt mit einer verstorbenen Freundin bei ihr war und das für mich eine Art Abschied sein sollte. Dieses Erlebnis wollte ich für mich allein haben.

Was raten Sie denn Menschen, die dem Alleinsein so gar nichts Positives abgewinnen können?

Ich find es völlig okay, nicht gerne allein zu sein. Vor allem extrovertierte Menschen brauchen den Kontakt zu anderen Menschen in regelmäßigen Abständen, um glücklich zu sein. Ich denke, Alleinsein ist etwas, das man aber können sollte, um sich bewusst für Gesellschaft oder das Alleinsein entscheiden zu können.

Warum Alleinsein uns alle weiterbringt

Und wie freunde ich mich mit dem Alleinsein an?

Ein guter erster Schritt ist es, die Zeit mit sich selbst als gleichwertig zu betrachten, wie die Zeit, die wir mit anderen Leuten verbringen. Viele verplempern die Zeit allein eher, als sie zu genießen – machen sich dann nur ein Fertiggericht, statt für sich zu kochen oder sagen das Konzert ihrer Lieblingsband ab, bevor sie allein hingehen. Dabei können Solo-Erlebnisse genauso bereichernd sein.

Was macht das Alleinsein denn konkret so wertvoll für jeden von uns?

Man lernt sich dabei einfach besser kennen. Wir leben in einer sehr lauten Gesellschaft, in der nahezu durchgehend eine neue Nachricht aufpoppt oder eine neue Aufgabe ansteht. Das hilft einem natürlich auch, unliebsame Gefühle zu unterdrücken und Bedürfnisse zu überhören. Wenn man mal so richtig Stille hat, dann kommen all diese verdrängten Sachen hoch. Das können viele Menschen erstmal gar nicht aushalten – aber es lohnt sich, sich zwischendurch mal zu fragen, ob man gerade eigentlich auf dem richtigen Weg ist oder einfach nur mitläuft, weil es bequem ist.

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Sie haben sich schon vor vielen Jahren für den Weg in die Öffentlichkeit entschieden. Zuerst auf einem Blog und schließlich in Büchern teilen Sie Ihre Gedanken und Gefühle mit zahlreichen Lesern, sprechen aus, was viele denken – aber sich kaum jemand zu sagen traut. Warum?

Ich glaube, ich habe einfach ein extremes Mitteilungsbedürfnis. Mir kommt es auch gar nicht so vor, als würden Leute lesen, was ich schreibe. Wenn ich schreibe, dann mache ich das in erster Linie für mich. Ich schreibe seit Jahren Tagebuch und habe daraus dann zufällig Bücher entwickelt. Schreiben ist mein Mittel, mich selbst besser zu verstehen und die Welt, in der ich lebe.

Wenn Sie schreiben, dann schreiben Sie vor allem über die Liebe – zum Leben, zu anderen Menschen und zu sich selbst. Was fasziniert Sie so sehr daran?

Liebe ist das schönste Gefühl der Welt. Ich finde, es gibt nichts Stärkeres, was man fühlen kann – außer vielleicht stolz auf jemanden oder etwas zu sein. Wenn man dazu in der Lage ist, nicht nur andere Menschen, sondern auch das Leben zu lieben, dann ist das eine enorme Bereicherung. Und das feiere ich mit meinen Texten.

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