500 Tote pro Tag? Statistiker sagt, wie realistisch Lauterbachs Lockerungs-Szenario ist

Gesundheitsminister Karl Lauterbach warnte am Dienstag davor, zu früh zu lockern. Es bestünde die Gefahr, dann trotz hoher Impfquote täglich bis zu 500 Corona-Todesfälle zu verzeichnen. FOCUS Online hat bei einem Statistiker nachgefragt, wie realistisch diese Prognose ist.

Am Dienstagabend warnte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor verfrühten Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen. Wenn diese in Deutschland, ähnlich wie etwa in Israel, fallen würden, könnte das zu einer höheren Sterbequote führen. Das sagte er im ZDF-„heute journal“. „Ich mag mir einfach gar nicht vorstellen, dass wir in einer Situation wären, so spät in der Pandemie, wo wir gute Impfungen haben, wo wir dann 400, 500 Tote am Tag hätten“, skizzierte der Gesundheitsminister.

Lauterbach rechnet bei Lockerungen mit bis zu 500 Corona-Toten pro Tag

Angesichts der Lockerungen in anderen Ländern und den insgesamt milder verlaufenden Omikron-Erkrankungen werden auch in Deutschland Forderungen nach raschen Erleichterungen lauter. Deutschland sei allerdings „noch immer gefährdet, und wir können breite Lockerungen, wie sie derzeit diskutiert werden, zum jetzigen Zeitpunkt nicht vertreten“, sagte der Minister weiter. „Ich wundere mich über die Diskussion, die zum Teil in der Politik zu beobachten ist. Wir sind noch vor dem Höhepunkt der Welle“, täglich gebe es immer noch zwischen 100 und 150 Toten zu beklagen.

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    Statistiker: Vorzeitige Lockerungen wären riskant

    „Wir befinden uns immer noch in einer Situation steigender Fallzahlen bei den Neuinfektionen“, erklärt der Leiter der Abteilung für Mathematische Statistik der Universität Stuttgart. Deutschland habe den Höhepunkt der Omikron-Welle noch nicht überschritten habe. „Es ist überhaupt nicht sachgerecht vor dem Peak starke Lockerungen der Maßnahmen vorzunehmen, wie etwa in Israel. Sehr riskant wäre es sogar, jetzt einen Freedom Day mit Total-Lockerungen auszurufen wie es in Dänemark kürzlich geschah", warnt er.

    Selbst der in Israel beschrittene Weg mit Teil-Lockerungen würde uns schnell wieder zu sehr stark steigenden Fallzahlen und mindestens deren Verdopplung über einen Zeitraum von drei Wochen führen – „mit darüber hinaus steigender Tendenz“, erklärt Hesse. Das von Lauterbach beschriebene Szenario von wieder 500 Corona-Toten pro Tag könne dann durchaus eintreten.

    „Bedenkt man, dass bei dem in unserem Land verbreiteten Omikron-Subtyp BA.1 0,08 Prozent der infizierten Patienten, die Symptome zeigen, versterben, so ergibt sich innerhalb von wenigen Wochen, die von Gesundheitsminister Karl Lauterbach genannte Zahl von 500 täglichen Todesfällen, dann ebenfalls mit steigender Tendenz“, erklärt Hesse.

    Ein Freedom Day wie in Dänemark würde den Neuinfektionen „einen noch größeren Boost“ geben. „Sie würden sich dann relativ schnell alle 3 Tage verdoppeln“, prognostiziert Hesse. Das zeigten die Erfahrungen aus Großbritannien, wo die Omikron-Mutante anfangs auf eine Population stieß, die teils noch die Freiheiten lebte, die der frühere Freedom Day ihnen eröffnet hatte.

    Omikron-Peak deutet sich endlich auch in Deutschland an

    Ein erheblicher Unterschied zu Dänemark und auch Israel bestehe für uns darin, dass diese beiden Länder bereits den Peak der Infektionszahlen hinter sich hätten. Allerdings werde es auch bei uns nicht mehr lang bis zum Höhepunkt der Omikron-Welle dauern. Das Anstiegstempo habe sich stark verlangsamt und die Kurve zeige mittlerweile Anzeichen, sich abzuschwächen. „Denn der R-Wert pendelt um den Wert 1, jedoch mit einer Tendenz nach unten. Der heutige Wert liegt bei 0,98. Das sind erfreuliche Entwicklungen“, so Hesse.

    Wenn unsere gegenwärtigen Maßnahmen beibehalten würden, zeichne sich in einer bis zwei Wochen ein Absinken der Neuinfektionen und Inzidenzen ab. „Das ist ein Erfolg unserer Gegenmaßnahmen“, erklärt der Statistiker. Diese vorzeitig zu beenden, wäre demnach riskant.

    Über den Experten

    Christian Hesse ist Mathematiker und Leiter der Abteilung für Mathematische Statistik an der Universität Stuttgart. Hesses Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Stochastik, der Mathematik des Zufallsgeschehens. Er hat den Deutschen Bundestag, das Bundesverfassungsgericht und die US-Regierung in mathematisch-statistischen Fragestellungen beraten.

    Virologe kritisiert Lauterbach-Aussage

    Virologe Alexander Kekulé zeigte sich bezüglich Lauterbachs Prognose hingegen kritisch. Er bemängelte im MDR-Podcast die Aussage, es gebe aktuell 100 bis 150 Tote. In anderen Ländern habe sich gezeigt, dass die jetzt gemeldeten Todesfälle und Zahl von schweren Verläufe noch von Delta stammten. Demnach ließe sich nicht darauf schließen, wie viele Menschen tatsächlich an Omikron versterben – und im Falle von Lockerungen versterben würden.

    Allgemein gilt es als komplex, die tatsächliche Anzahl der an oder mit Corona Verstorbenen zu ermitteln. Über das „an oder mit“ entscheiden pro Landkreis die lokalen Gesundheitsämter. Faktoren, wie schwere Vorerkrankungen, können die Bestimmung erschweren und in die Länge ziehen, da auch medizinische Daten abgeglichen werden müssen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) erhält dann erst im Anschluss die gemeldeten Fälle.

    Aus diesem Grund veröffentlicht das RKI die Todesfälle mit einer Verzögerung von drei Wochen, „um die relative Vollständigkeit der Daten zu gewährleisten“. Wie die Wissenschaftler betonen ist für dennoch „für die letzten dargestellten Wochen noch mit Nachmeldungen zu rechnen“.

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    Lauterbach plant noch vor Ostern Lockerungen

    Die Bundesregierung hat es abgelehnt, vor dem nächsten Bund-Länder-Treffen am 16. Februar einen Lockerungsplan vorzulegen. Wann hierzulande mit Öffnungsschritten zu rechnen ist, bleibt abzuwarten. Allerdings erklärte Lauterbach bereits, er rechne noch vor Ostern mit spürbaren Lockerungen.

    Der Chef des RKIs, Lothar Wieler, zeigte sich am Dienstag ebenfalls „optimistisch, dass wir die Omikron-Welle bald überstanden haben“. Wielers Zwischenbilanz: „Wir sind bislang vergleichsweise gut durch diesen Sturm gesteuert.“ Die Zahl der Krankenhauseinweisungen sei trotz eines leichten Anstiegs „noch vergleichsweise gering“. Dennoch müssten die Eindämmungsmaßnahmen zunächst noch beachtet werden, „und dann können wir uns entspannt auf Ostern freuen“.

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