Studie zeigt die fatale Rolle Ischgls bei Coronavirus-Ausbreitung in Deutschland
„Das Wuhan Europas“, „Coronavirus-Hotspot“, „Superspreader-Location“ – die Liste der negativen Zuschreibungen für den österreichischen Wintersportort Ischgl im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist lang (lesen Sie hier mehr dazu). Und das offenbar nicht ganz zu Unrecht, wie nun eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) nahelegt.
Die Forscher haben die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland untersucht und kommen zu dem Schluss: „Nähe zu Ischgl erhöht die Infektionsrate.“ Die Untersuchung untermauere die Bedeutung des Skiorts als „Ground Zero“ der deutschen Corona-Verbreitung.
Schleppende Reaktion in Ischgl war fatal
Als Grundlage für die Berechnungen dienten den drei Wirtschaftswissenschaftlern Daten des Robert-Koch-Instituts aus den 401 Landkreisen und kreisfreien Städten der Deutschlands. Schon beim Blick auf die Landkarte fiel ihnen auf: In Bezug auf die Infektionszahlen pro 100.000 Einwohner sind Baden-Württemberg und Bayern am stärksten vom Coronavirus betroffen – allerdings auch mit starken regionalen Unterschieden. Die beiden Länder haben die geringste Distanz zu Ischgl.
Profit vor Gesundheit
Der Corona-Hotspot: Was geschah in Ischgl?
Ski-Urlauber haben zur massiven Ausbreitung des Corona-Virus in Deutschland und Skandinavien beigetragen. Ein Hotspot der Ansteckungswelle: Ischgl in Tirol. Wie konnte es dazu kommen? Rekonstruktion eines Versagens.
Spielt also die Entfernung zu dem Tiroler Wintersportort eine Rolle, wie stark eine Region vom Coronavirus betroffen ist? Ja, meinen die Kieler Forscher nach der Analyse der Daten und ihren Berechnungen. „Schon ein um zehn Prozent kürzerer Anfahrtsweg nach Ischgl, erhöht die Infektionsrate im Durchschnitt um neun Prozent“, erklärt IfW-Präsident und Mitautor Gabriel Felbermayr. „Andersherum bedeutet das auch: Lägen alle deutschen Kreise so weit weg von Ischgl wie der Kreis Vorpommern-Rügen, gäbe es in Deutschland fast 50 Prozent weniger Infektionen mit dem Coronavirus.“ Aus dem nordöstlichsten Landkreis sind es rund 1100 Kilometer auf Autobahnen und Bundesstraßen nach Tirol, aus den südlichen Bayerns oder Baden-Württembergs fährt man mitunter keine zwei Stunden.
Die Erkenntnis, dass Entfernung eine Rolle spielt, klingt zunächst wenig überraschend, ist doch bei einer Mensch-zu-Mensch-Infektion die Mobilität ein entscheidender Faktor für die Ausbreitung von Viren. Aber: Die Wissenschaftler haben sich weitere Hotspots der Coronavirus-Pandemie angesehen, den besonders betroffenen Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen und die Region Mülhausen/Grand-Est an der Grenze von Frankreich zur Bundesrepublik. Sie konnten aber „keinen vergleichbaren geografischen Einfluss auf das Infektionsgeschehen in Deutschland empirisch nachweisen“, heißt es in einer Mitteilung des IfW.
Warum war das Ausbreitungsgeschehen in Ischgl in der Folge so fatal? Die Autoren der Studie machen die langsame Reaktion der Behörden auf die ersten Coronavirus-Fälle in der Gemeinde mitverantwortlich dafür: „Schon am 5. März 2020 hat das erste europäische Land den Skiort als Risikogebiet eingestuft. Trotzdem wurden erst neun Tage später Quarantäne-Maßnahmen eingeleitet – der komplette Lockdown folgte noch später. Daten vom 20. März 2020 zeigen, dass ein Drittel aller Fälle in Dänemark und ein Sechstel aller Fälle in Schweden auf Ischgl zurückgeführt werden konnten.“
Mit anderen Worten: Länger als eine Woche konnten Infizierte weitgehend ungehindert das Virus in alle Welt verteilen, weil Verantwortliche in Österreich – anders als beispielsweise im Kreis Heinsberg oder in der Region Grand-Est – lange untätig blieben.
Auch Religon spielt eine Rolle
In Tirol laufen inzwischen auch staatsanwaltschaftliche Untersuchungen zu den Gründen für die laxe Reaktion – unter anderem steht im Raum, dass die Skisaison aus Profitgier nicht vorzeitig abgebrochen werden sollte.
Infektionen in Deutschland
Aktuelle Virus-Lage: Nur noch eine Stadt über der kritischen Marke von 50 Neuinfektionen
Die Forscher haben sich auch andere Faktoren angeschaut, die einen Einfluss auf das Ausbruchsgeschehen in den deutschen Landkreisen haben könnten, zum Beispiel Handelsverbindungen mit China oder die Zahl der Menschen in einer Region, die im Homeoffice arbeiten. Ergebnis: „Kein Einfluss nachzuweisen.“
Anders dagegen die Reisebewegungen: „Die Analyse unterstreicht, dass der internationale Tourismus ein wichtiger Faktor für die Verbreitung ansteckender Krankheiten ist.“ Rechtzeitige Reiseverbote könnten daher die Übertragungswege einschränken – und auch die Einschränkungen des Alltags und der Mobilität in Deutschland sorgten nach Ansicht der Forscher dafür, dass aus Ischgl heimkehrende infizierte Wintersportler das Virus in erster Linie in ihrer Heimatregion und nicht darüber hinaus verbreiteten. „Die Entfernung zu Ischgl im Laufe der Zeit (wird) für die beobachteten Fälle nicht irrelevant“, stellt Felbermayr fest.
„Hinweise auf Wirksamkeit der Lockdown-Maßnahmen“
Eine andere Auffälligkeit bemerkten die Forscher jedoch: „Die katholische Kultur scheint die Zahl der Fälle zu erhöhen – wahrscheinlich durch die vielen Karnevalsfeiern Ende Februar“, so Felbermayr. Die massive Ausbreitung des Coronavirus im Kreis Heinsberg wird beispielsweise mit einer solchen Veranstaltung in der Gemeinde Gangelt in Verbindung gebracht.
„Wir betrachten unsere Ergebnisse als ersten Beweis für die Bestätigung der Rolle von Superspreader-Standorten für die Verbreitung einer Pandemie“, schreiben die Autoren der Studie in ihrem Fazit in Bezug auf Ischgl. „Darüber hinaus finden wir Hinweise auf die Wirksamkeit der Lockdown-Maßnahmen zur Verringerung der Ausbreitung des Virus.“
Allerdings gilt wie immer in der Wissenschaft: Sollten weitere Daten vorliegen, könnte die Analyse in Zukunft differenzierter oder auch anders ausfallen. Mit der Veröffentlichung des Arbeitspapiers können sich auch nun auch andere Forscher an der Diskussion über die Ergebnisse beteiligen.
Quellen: Mitteilung des IfW, Studie des IfW (englisch)
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